Moral

Moral – was für ein weites Feld. Ein Minenfeld geradezu!

(Erstveröffentlichung! Verfasst am 06.02.2020)

Überfrachtet mit Regeln, Verboten, Geboten, Gesetzen, Kulturen, Religionen, Emotionen, Missverständnissen.
Was ist gut? Was ist böse?
Ständig treffen wir moralische Entscheidungen, beurteilen und verurteilen andere Mitwesen oder Geschehnisse nach irgendwelchen Maßstäben, heben oder senken den Daumen.
Aber wieso fallen diese Urteile bei den Menschen so unterschiedlich aus? Wieso verurteilt der Eine etwas, was die Andere erstrebenswert findet?
Gibt es denn überhaupt keinen gemeinsamen Nenner?

Früher war das wohl einfacher. Da ging man in die Kirche, Synagoge, ins Minarett oder sonst eine kultische/religiöse Gemeinschaft und folgte einfach den Regeln, die von „Gott“ oder wem auch immer an allerhöchster Stelle aufgestellt, diktiert worden waren. Ohne Diskussion.

Doch mit der zunehmenden Befreiung des Menschen aus „seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ begann er, eine eigenständige Begründung für ein Fundament zu suchen, auf dessen Basis ein verbindliches Regelwerk für richtiges und falsches Handeln errichtet werden könne.

Viele fanden dieses Fundament in der sogenannten Goldenen Regel:

„Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“

Oder in der etwas anspruchsvolleren Version des Philosophen Immanuel Kant:

„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

Da Gott, wie wir ihn aus der Überlieferung kennen, für viele Menschen auf der Erde inzwischen längst nicht mehr als Autorität und Begründung anerkannt wird, ist die Menschheit darauf angewiesen, sich selbst moralische Grundsätze aufzuerlegen, nach denen man das Zusammenleben von Mensch, Natur und Technik in Einklang bringen kann.

Die Goldene Regel ist dabei ein brauchbarer und pragmatischer Ansatz, weil sie unmittelbar einleuchtet.

Denn sie schließt umgekehrt Handlungen aus, die man selbst nicht erdulden will: Lüge, Diebstahl, Gewalt, Betrug, Rücksichtslosigkeit.

Trotzdem taugt die Goldene Regel nicht als einzige Basis des eigenen Handelns: Weil das Leben einen allzu oft zu Ausnahmen zwingt, wenn verschiedene Interessen im Widerspruch stehen.

Der klassische Gewissenskonflikt.

Du sollst nicht lügen. Ok. Ehrlichkeit und Offenheit sind eine wichtige Basis, um im zwischenmenschlichen Miteinander Vertrauen zu schaffen. Denn wenn ich dem Gegenüber nicht vertrauen kann, dann habe ich auch keine Gewissheit, dass er/sie sich an die Regeln hält, die ich für unerlässlich halte.

Ich werde einem überführten Kinderschänder nicht auch noch den Weg weisen, wenn er mich nach dem Aufenthaltsort eines Kindes fragt. Ich werde zur Notlüge greifen, um den verdächtigen Täter auf eine falsche Fährte zu locken.

Genauso verhält es sich mit den anderen negativen Geboten, die wir beispielsweise aus der Bibel kennen.

Du sollst nicht töten. Aber wir töten ja seit Urzeiten Tiere, um uns von ihnen zu ernähren. Und wenn du selbst, deine Familie oder Freunde, dein Wohnort oder dein Land von Feinden mit Waffen angegriffen werden, dann wirst du dich selbstverständlich auch verteidigen dürfen! Notwehr!

Moral ist also eine sehr schwammige Angelegenheit, und unsere Handlungsentscheidungen sind sehr komplex und kontextabhängig.

Es gibt aber generell zwei Grundprinzipien, die unsere Entscheidungen lenken:

Das eine ist der natürliche Selbsterhaltungstrieb (erweiterbar auf den Tribe, zu dem wir uns gehörig fühlen).

Das andere ist die Einsicht, dass wir soziale Wesen sind, die auf die Hilfe und Akzeptanz anderer angewiesen sind.

(Gläubige Menschen richten ihr Handeln wiederum danach aus, damit das Wohlgefallen höherer Mächte zu erlangen.)

Wenn ich meine beiden Rüden tagtäglich betrachte, dann sehe ich, dass sie keine Moral kennen.

Ihr allererstes Verhalten ist, die Dinge so zu nehmen wie sie sind, etwas zu Essen, zu Trinken und einen Ort zum Ruhen zu haben, sich Triebhaftigkeit zu reproduzieren und den Rest des Tages nichts zu tun oder nur das, was ihnen gerade gefällt.

Kommt ein weiterer Hund oder gar Hündin ins Spiel, ändert sich der Kontext.

Da geht es unmittelbar darum, in Relation zueinander zu treten, sich zu behaupten, seinen Platz zu verteidigen, oder zu kooperieren (oder sich gar zu verlieben).

Selbstbehauptung und Kooperation – das sind die beiden Pole, zwischen denen auch der Mensch sich immer wieder auf’s Neue positionieren muss.

Und das ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer, sich ständig wandelnder Prozess.

Je nach Herkunft, Alter, Geschlecht, persönlicher Erfahrungen,  Eigenschaften und Dispositionen kann ein- und dieselbe Situation bei unterschiedlichen Menschen zu völlig anderen Handlungen und Entscheidungen führen.

Es gibt keine moralische Maxime, nach der in egal welchem Kontext alle Menschen dieselbe Entscheidung treffen würden!

Zumal für die/den Eine/n gut ist, was für die/den Andere/n schlecht ist.

Nehmen wir das Thema Abtreibung. Die Gegner stellen das Prinzip des (gottgegebenen) Lebensrechtes über alles und halten es grundsätzlich für verwerflich, ungeborenes Leben abzutreiben und damit zu töten. Das ist als Leitprinzip auch völlig in Ordnung. Ich möchte mir jedenfalls keine Welt vorstellen, in der werdendes Leben so verachtet und geringgeschätzt wird, dass man es ohne jegliche Skrupel und Einschränkungen töten dürfte.

Doch selbstverständlich ist es legitim, wenn man aus rein lebenspraktischer Erfahrung und kontextabhängig Ausnahmen zulässt: wenn die Umstände für die Betroffenen unverhältnismäßig belastend, gefährlich oder gar tödlich wären.

Bei der Moral geht es um WERTE, nach denen wir unser Handeln ausrichten.

Und natürlich ist das eigene Überleben, die Selbstbehauptung das Grundbedürfnis eines jeden Lebewesens und steht an erster Stelle aller Moral.

Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

So radikal und desillusioniert hat Bertold Brecht das nach der traumatischen Erfahrung des Ersten Weltkriegs formuliert.

Moral ist eine soziale Konvention, die sich je nach Situation als sehr dünnes Eis erweist. Der Mensch wirft sie schnell über den Haufen, wenn er seine eigene Existenz dadurch bedroht sieht.

Und so entwickelt sich der Mensch zeitlebens immer mehr zu einem Opportunisten, der sein Fähnchen mal hier, mal dorthin hängt, je nach dem, wovon er sich am meisten für sich und seinen Tribe verspricht.

Moral hat viel mit Macht zu tun: Es setzt sich immer jenes Regelwerk durch, das die meisten oder mächtigsten Anhänger hat bzw. den meisten und größten Profit verspricht.

Es ist ein Verteilungskampf, bei dem der Starke dem Schwachen überlegen ist, es sei denn, die Schwachen verbünden sich, um die Starken gemeinsam vom Thron zu stürzen.

Moral ist – wenn man sie von theologischen Begründungen löst – ein Code of Conduct, auf den sich die jeweilige Gemeinschaft verständigt hat oder die von hierarchisch Höhergestellten von oben nach unten durchgesetzt wird.

Es wird dabei immer konkurrierende Ansätze geben.

Es wird immer Menschen geben, die es legitim finden, zur Durchsetzung ihrer Ziele egal welche Mittel einzusetzen, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Gnade.

Und es wird immer Menschen geben, denen Mitgefühl, Empathie, Einfühlungsvermögen gegeben ist, die nicht ihr eigenes Ego in den Vordergrund stellen, sondern sich als GEBENDE verstehen, die ihr Leben dem Gemeinwohl verschreiben und es als Aufforderung verstehen, sich für das Gute im Ganzen einzusetzen, für Gerechtigkeit, für Harmonie, für Liebe, für Rücksicht, für Respekt, für Genügsamkeit, für Ruhe, für Frieden in der Welt, für Leben und Leben lassen.

Das Leben ist ein Geben und Nehmen.

Wer immer nur nimmt und nichts gibt, der wird am Ende mit leeren Händen dastehen.

Wer immer nur fordert, aber selbst nie etwas dazu tut, es umzusetzen, der wird am Ende nichts bekommen.

Wer immer nur hetzt, statt auf andere zuzugehen, der wird am Ende ausgegrenzt.

Wer nur an sich denkt und die anderen ignoriert, der wird selbst ignoriert werden.

Das sind ganz simple Ursache-Wirkung-Grundsätze.

Egoismus kann auf kurze bis mittlere Sicht durchaus sehr erfolgreich sein. Doch der Widerstand, auf den dieser bei den anderen stößt, wächst und wächst, bis er deinen Egoismus zu Staub pulverisiert.

Was falsch ist, ist falsch und bleibt falsch.

Richtig ist, was allen nützt und dient. Nicht nur dir selbst.

Denn du bist ein Nichts. Du bist einer von Abermilliarden. Selbst ein Trump ist nur ein kleiner Rülpser in der Weltgeschichte. Ein Pickel. Ein Abszess. Eine Missgeburt. Ein Bug.

Das Richtige ist richtig und bleibt richtig.

Da können noch so viele Fakenews die sozialen Kanäle überschwemmen:

Wenn der #Brexit ein Fehler war, dann wird er sich als solcher erweisen.

Wenn #Trump ein Vollpfosten ist, dann wird die Geschichte es offenbaren.

Wenn der Klimawandel vom Menschen verursacht ist oder zumindest verstärkt wird, dann wird er sich mit allen Folgen und vor aller Augen manifestieren. Da nachweislich mehr für als gegen diese These spricht, ist es im Zweifelsfall besser, alles zu tun, um die schlimmsten Szenarien doch noch abzuwenden.

Man hat immer eine Wahl.

Und man hat immer die Möglichkeit, sich für oder gegen etwas zu entscheiden (oder sich zu enthalten).

Sich enthalten heißt: Ich hab keine Ahnung oder keine Lust oder kann mich nicht entscheiden und überlasse es den anderen, darüber zu entscheiden. Dann muss man diese Entscheidung aber auch akzeptieren und die Folgen mittragen.

Wer sich enthält ist wie ein Wanderer, der vor einer Weggabelung steht und nicht weiß, welches der richtige Weg zum Ziel ist und daher stehenbleibt und darauf wartet, dass jemand kommt, der ihm die Entscheidung abnimmt.

Ich stelle mir solche Entscheidungen im Leben – denn darum geht es letztlich – immer als Weggabelung vor, so wie ich sie auf meiner inspirierenden und lebensverändernden  Wanderung über den Jakobsweg erlebt habe.

Wir stehen im Leben ständig vor solchen Entscheidungen, mal kleinen, mal großen.

Das Leben ist (für die meisten, nicht alle) ein langer Weg, voller Überraschungen, voller Wendungen, voller Sackgassen, Irrwege und Umwege. Manchen gleicht es wie ein Labyrinth, wo man vor lauter Spiegeln den Weg nicht sieht.

Doch was dem Einen als Labyrinth erscheint, lässt die Andere vor Freude Luftsprünge machen: die selbstverliebte Instagram-Influencerin sieht hier ihre ultimative Chance, ein perfektes Rundum-Selfie von sich zu schießen!!

Es ist also alles eine Frage der Wahrnehmung, der Perspektive.

Was der Eine schlimm findet, findet die Andere toll, was die Eine will, kann der Andere nicht ab.

Kulturen und Gemeinschaften, Familien und Freundeskreise, Länder und Kontinente sind Orte, wo man gemeinsame Interessen und Vorlieben miteinander teilen kann.

Es gibt Kulturen und Gemeinschaften, deren Regeln man nicht akzeptieren will und kann, weil sie den eigenen Überzeugungen völlig zuwiderlaufen.

Das ist normal und völlig ok.

Man kann, man muss sich nicht mit allen verstehen. Man muss andere nicht lieben, wenn man sie in Wahrheit verachtet.

Gefühle sind Gefühle bleiben Gefühle.

Sie sagen uns aus dem Bauch heraus, was uns gefällt oder nicht gefällt.

Und trotzdem sollten wir deswegen unseren Verstand nicht abschalten. Sondern uns immer auch Fragen, ob unsere Gefühle und Instinkte, unsere Fantasien uns nicht vielleicht täuschen?

Mein 13-jähriger Sohn „mag keine Natur“, wie er jüngst nochmal bekräftigte. Er findet sie eklig und gefährlich und würde den Feldweg zum Strand sofort mit Asphalt zukleistern. Von mir hat er das nicht. Und irgendwie zeigte er schon früh an gewisse Züge eines Alien. Schon als Fünfjähriger überraschte er mich auf der Autofahrt zum Kindergarten mit der kategorischen Aussage, dass es Gott nicht gäbe. Denn wenn es ihn gäbe, dann ließe er die Menschen nicht sterben.

Bemerkenswerte Erkenntnis für dieses Alter.

Kinder beschäftige sich sehr früh mit den existenziellen Fragen des Lebens. Denn schließlich sind sie neu in diese Welt geworfen und müssen sich erstmal orientieren. Die Erfahrung des Schmerzes und die Erkenntnis der Sterblichkeit, der Vergänglichkeit – umso mehr angesichts liebgewordener Wesen und Dinge – ist ein fulminanter Schock. Ein Trauma. Das uns zwangsläufig den Sinn des Ganzen bezweifeln lässt.

Welchen Sinn hat das Dasein, wenn es keinen Sinn macht? Welchen Sinn soll dieses Dasein haben, wenn am Ende eh alles für die Katz ist?

Wenn man dann noch erlebt, dass man als kleines und wehrloses Wesen von anderen missbraucht, geschlagen, getreten, bespuckt, verjagt und vom Unglück verfolgt wird, dann ist das Trauma perfekt.

Das ist der Kern der menschlichen Tragödie: dass sie garantiert tödlich endet und viele unschuldig zu Opfern werden oder unschuldig schuldig, weil sie keine andere Wahl hatten.

Das Leben ist ein harter Kampf.

Aber die Menschheit hat auch schon Vieles erreicht, um das Leben für alle oder wenigstens die Meisten erträglicher zu machen:

Ernährung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Infrastruktur, Technologie, Grundversorgung, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Ausgleich, Gleichberechtigung, Umweltschutz…

Das sind die Grundpfeiler, auf denen eine Gemeinschaft stehen und sich entfalten kann.

Wir müssen dabei nicht alle einer Meinung sein. Das werden wir auch nie.

Aber wir müssen alle das gemeinsame Ziel vor Augen haben, dass es bei allem guten und sinnvollen Wettbewerb nicht um das Motto gehen kann: The Winner Takes it all!

Es muss bei allem Egoismus immer das Wohl der Gemeinschaft, der Gesellschaft, der Umwelt, des Planeten im Vordergrund stehen.

Unsere Erde ist ein wunderbarer Lebensraum. Wir kennen weit und breit keinen besseren! Er ist geradezu perfekt, um uns allen einen angenehmen Lebensstandard ohne Streit und Krieg zu ermöglichen. Wir müssen halt nur verantwortungsbewusst mit den vorhandenen Ressourcen umgehen, sie schonen und womöglich mehren, ohne das ökologische Gleichgewicht als solches aus den Angeln zu heben.

Die Rohstoffe dieser Erde sind nicht dazu da, um von einigen wenigen auf Kosten der anderen ausgebeutet zu werden. Die Erträge aus der Gewinnung von Rohstoffen müssen allen zugutekommen. Sie sollten kein Objekt privatwirtschaftlichen Profitstrebens sein, sondern ein Schatz, der allen zugutekommt.

Jeder Einzelne ist dafür verantwortlich, seinen eigenen Beitrag dazu zu leisten. Und wenn er es nicht tun will, dann wenigstens nicht im Weg zu stehen und die anderen zu behindern.

Veränderungsprozesse sind dynamisch, sie schlagen immer mal in diese, mal in jene Richtung aus.

Doch am Ende pendelt sich alles ein und wird sich genau in die Richtung begeben, die den beteiligten Elementen immanent ist.

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