Mein Jakobsweg


Ein ehemaliger Schulkamerad hat vor Kurzem seinen Traum wahr gemacht und ist den Jakobsweg (Camino Francés) gelaufen. Das weckt in mir starke Erinnerungen an meinen eigenen Jakobsweg, den ich im Jahr 2000 gelaufen bin.

Pilgerpass von Gregor Rabe
Der Beweis: Mein Pilgerpass

Es war ein unvergessliches Erlebnis, das ich jedem empfehlen kann (wenngleich der Camino heute v.a. in der Haupsaison sehr überlaufen ist. Außerdem häufen sich Diebstähle und Raubüberfälle. Das war im Mittelalter allerdings auch nicht anders, Pilger lebten schon damals gefährlich…).

Mir ist damals nichts dergleichen widerfahren. Mein Camino war friedvoll, kontemplativ, inspirierend.

Damals gab es schon das Buch von Paulo Coelho und von Shirley MacLaine (das von Hape Kerkeling noch nicht), ich hatte aber keines vorher gelesen und ging somit völlig unvoreingenommen an die Sache ran.

Jeder geht sowieso seinen eigenen Weg, hat seine ur-eigene Motivation, macht seine ur-eigenen Erfahrungen.

Ich hatte mich nur insofern vorbereitet, als ich mich über die richtige Ausrüstung kundig machte und mir einen leichten Wanderführer im Taschenbuchformat mit den jeweiligen Etappen und Unterkünften besorgte.

Da ich gerade Mal drei Wochen Zeit hatte und mein Rückflug von Santiago de Compostela nach Deutschland fest gebucht war, wollte ich erst in Burgos meinen Weg beginnen. Das sind immerhin auch etwa 500 km zu Fuß.

Doch mein persönlicher Camino führte mich zunächst in die baskische Küstenstadt Algorta, wo ich von meinem dritten bis achten Lebensjahr aufgewachsen bin. Seit meiner Kindheit – jetzt war ich 33 Jahre alt – hatte ich den Ort, der für mich voller wunderbarer Erinnerungen steckt, nicht mehr besucht und einen großen Bogen um ihn gemacht. Diesmal wollte ich mich aber nicht mehr davor drücken.

Ich flog also von München, wo ich damals lebte und arbeitete, nach Bilbao. Inzwischen gab es von dort eine direkte Zugverbindung nach Algorta.

Trotz vieler Unkenrufe von Freunden und Familie stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass sich die Stadt nicht zum Schlechteren verändert hatte. Trotz vieler Neubauten und Veränderungen war der Stadtplan, den ich aus Kindheitstagen noch im Kopf hatte, weitgehend erhalten geblieben. Ich konnte also alle Wege gehen, die ich als Kind gegangen war, z.B. zu den Häusern meiner damaligen Spielkameraden. Auch das Haus, in dem wir damals wohnten, stand noch da wie früher, hatte allerdings eine andere Hausnummer.

Diese Begegnung mit meinen prägendsten Kindheitserinnerungen war ein wichtiger Auftakt für meinen Jakobsweg: Zurück zu den Wurzeln und die große Zeitspanne überschauen, die sich an die Kindheit in Spanien angeknüpft hatte.

Guten Mutes und im Frieden mit mir selbst brach ich mit dem Überlandbus von Bilbao nach Burgos auf und machte mich sogleich auf zu meiner ersten Etappe, zur ersten Pilgerherberge außerhalb der Stadt, nach Hornillos.

Dort, in dieser kleinen Herberge, machte ich gleich einige Bekanntschaften, die mir auf dem weiteren Weg noch öfters begegnen sollten.

Ich war bewusst alleine aufgebrochen, um für die kommenden Begegnungen aufgeschlossen sein zu können und mir nach Lust, Laune und Tempo die passenden Weggefährten zu suchen. Es gibt für mich keine bessere Art, den Camino zu laufen.

Jeder hat seinen eigenen Rhythmus, den man am Anfang erst finden muss. Von vornherein mit jemandem zusammen zu gehen, der womöglich einen anderen Rhythmus hat, kann zu Konflikten und Problemen führen.

Ich möchte jetzt nicht mit langatmigen Schilderungen aller Etappen langweilen, zumal ich eh meine damaligen Aufzeichnungen nicht zur Hand habe.

Aber ich bin auf dem Weg vielen interessanten Menschen aus aller Herren Länder begegnet, mit denen ich sehr gute Gespräche über Gott und die Welt führte. Es herrschte eine große Herzlichkeit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Offenheit unter den Pilgern. Es war spannend zu hören, aus welch unterschiedlichen Motiven sich jeder Einzelne auf den Weg gemacht hatte, in welcher Lebenssituation sich die jeweiligen Pilger befanden, welche Erwartungen sie an den Camino knüpften.

Ich hatte keine besonderen Erwartungen, außer rechtzeitig ans Ziel zu kommen. Ich trug allerdings die Hoffnung auf Erleuchtung in mir. Und ich bekam sie auch.

Der Weg ist an manchen Stellen voller Magie (an anderen leider überhaupt nicht). Und es ist ein unvergessliches Erlebnis, mit seinem Körper, der Natur, der Zeit eins zu werden, fernab jeder (medialen) Ablenkung, fernab des üblichen Zivilisationsstresses, nur seinem inneren Rhythmus folgend.

Alles konzentriert sich an jedem Tag auf nur ein Ziel: Die jeweilige Tagesetappe zu schaffen. Zu essen, zu trinken, zu schlafen, die Wäsche zu waschen, den Körper, insbesondere die Füße zu pflegen.

Mein Reiseführer erwies sich als äußerst schlecht (was ich später gegenüber dem Verlag auch reklamierte, woraufhin ich zur Kompensation ein schönes Buch mit Wanderwegen in Bayern geschenkt bekam). Es geht aber auch ohne. Schließlich ist der Camino Francés ausreichend gekennzeichnet. Im Zweifelsfall kann man auch andere Pilger oder Einheimische um Rat fragen.

Am besten läuft es sich, wenn man keinerlei Zeitdruck hat. Mein fester Abflugtermin nötigte mich dazu, eine größere Strecke hinter León mit dem Bus zurückzulegen – eigentlich ein Sakrileg. Aber ich wollte mich nicht abhetzen und Gefahr laufen, mir das verbreitete Pilgerleiden wie entzündete Sehnen an den Beinen zuzulegen. Auch so würde ich schließlich mein Pilger-Laufsoll von 100 Kilometern übererfüllen.

Trotzdem ist so eine Nutzung moderner Verkehrsmittel während des Caminos nicht empfehlenswert, denn man verliert den Kontakt zu seiner Cloud. Denn so sehr jeder seinen eigenen Rhythmus hat: Früher oder später begegnet man den meisten Weggefährten wieder, und das ist auch schön so. Verliert man jemanden mal aus den Augen, so erfährt man von anderen Pilgern, was aus der Person geworden ist.

Die zwischenmenschliche Kommunikation kehrt auf dem Camino zur oral history zurück. Man kann auch in den Herbergen eine Nachricht für jemanden hinterlassen, der zurückgefallen ist. Oder einen Rad-Pilger bitten, eine Nachricht an jemanden zu überbringen, der schon weiter vorausgelaufen ist. Es ist toll zu erleben, welche Kanäle sich die Kommunikation sucht, wenn man bewusst auf moderne Kommunikationsmittel verzichtet, was ich persönlich für den Camino essentiell finde.

Witzigerweise holten mich einige Weggefährten zu Fuß wieder ein, obwohl ich zwischendurch den Bus genommen hatte. Und diese Wiederbegegnung freute mich umso mehr, da ich durch meine Busfahrt in einer Cloud gelandet war, in der ich niemanden kannte. Meine eigene Cloud war mir inzwischen so sehr ans Herz gewachsen, dass ich richtige Sehnsucht nach ihr hatte.

Spätestens in Santiago de Compostela trifft man viele Weggefährten wieder, sofern man zum Abschluss zwei Tage übrig hat.

Es ist schwer, dann Abschied zu nehmen und nicht mehr sein tägliches Laufpensum zu absolvieren. Diese täglichen Etappen sind einem so sehr zur zweiten Natur geworden, dass man am liebsten immer weiter laufen würde – bis ans Ende der Welt (Finisterre), was ja auch viele Pilger tun.

Ich habe es nicht getan, weil keine Zeit mehr blieb. Am Flughafen von Santiago de Compostela kaufte ich mir Paulo Coelhos Buch (auf Spanisch), von dem auf dem Weg so viel die Rede war. Ich begann es auf dem Rückflug zu lesen, legte es nach wenigen Seiten jedoch genervt weg. Das hatte doch mit meinem Camino nicht das Geringste zu tun!

Ich war noch so voll mit meinen eigenen Eindrücken, die ich zu verarbeiten hatte, dass mir die schriftstellerische Verarbeitung des Jakobsweges durch einen anderen im Moment überhaupt nicht in den Kram passte.

Es war auch ein Fehler, für den Rückweg das Flugzeug zu nehmen. Nachdem man sein Zeit- und Raumerlebnis durch das Wandern so heruntergefahren hatte, wäre eine sanftere Rückkehr in den Alltag besser gewesen, sprich: Mit der Bahn oder dem Bus. Aber wer hat schon soviel Zeit.

Auf dem Jakobsweg lernt man viel über sich und das Leben. „Der Weg ist das Ziel“, so der vielzitierte und inzwischen abgenutzte Spruch. Aber so ist es. Das ist die Wahrheit. Man könnte es allenfalls abändern in: Dein Weg ist Dein Ziel.

Man muss nicht auf den Jakobsweg, um zu solchen Einsichten zu gelangen. Doch auf dem Jakobsweg kommen Faktoren hinzu, welche das Pilgern/Wandern erleichtern und die Erkenntnis befördern:

  • Die entsprechende Infrastruktur an Herbergen, Wasserstellen, Pilgerraststätten;
  • Die Begegnung mit Gleichgesinnten;
  • Die Magie, die von der Historie des Weges, der Landschaft, der Kultur ausgeht.

Jahre später habe ich das Buch von Hape Kerkeling gelesen. Ich finde, er trifft es auf seine Art ganz gut. Auf dem Jakobsweg spielt es ja auch keine Rolle, ob Du prominent bist oder nicht: Hier wird jeder auf sich selbst zurückgeworfen, auf den Kern seines Wesens und Charakters komprimiert. Mancher erschrickt dabei vor sich selbst, andere finden ihre eigentliche, wahre Bestimmung.

Höchsten Respekt und größte Anerkennung erfahren ohnehin nur diejenigen, die auf dem Weg der Einsicht und Erkenntnis am weitesten gekommen sind.

Für mich persönlich markiert der Jakobsweg einen entscheidenden Wendepunkt in meinem Leben. Denn ich begegnete dort vielen Brasilianern (der Jakobsweg ist dort dank Paulo Coelho sehr popuär) und verlor meine Scheu vor der portugiesischen Sprache, die mich bis dahin davon abgehalten hatte, mal nach Brasilien zu reisen. Entgegen meiner früheren Erfahrungen konnte ich mich mit meinem Spanisch gut mit den Brasilianern verständigen. Einer sagte dann zu mir, ich müsse unbedingt Brasilien kennenlernen, v.a. den Bundesstaat Bahia legte er mir ans Herz.

Und so kam es, dass ich zwei Jahre später tatsächlich für vier Wochen nach Bahia flog, mich auf Anhieb in dieses Land und seine Menschen verliebte und auf einer späteren Reise in Ouro Preto die Frau fand, die ich heiratete und die mir zwei einzigartige Kinder schenkte.

Ich wäre heute nicht der, der ich bin, wäre ich nicht den Jakobsweg gelaufen!

Mein Jakobsweg

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