WM 2014: Brasilien vs Mexiko (Gruppe A)

Habe das Spiel Brasilien gegen Mexiko gestern zusammen mit einem deutsch-brasilianischen Paar, ihren zwei Söhnen und meinen beiden deutsch-brasilianischen Kindern im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gesehen. Eine tolle Location. Das Spiel gab es auf Leinwand in einem großen Kinosaal. Draussen auf der riesigen Terrasse gab es Gegrilltes (churrasco) und Getränke.

Als wir gegen 20:15 Uhr (Anpfiff: 21:00 Uhr) dort ankamen, war es noch ziemlich leer, doch es wurde zunehmend voller. Es waren überwiegend Brasilianer und Deutsche sowie Deutsch-Brasilianer und Brasilien-Sympathisanten dort, aber auch ein paar andere Latinos, u.a. Mexikaner.

Als die Hymne Brasiliens angestimmt wurde, standen auch einige auf, um mitzusingen. Aber selbst die vier brasilianischen Studentinnen, die direkt hinter uns saßen, waren nicht allzu textsicher, von den Nicht-Brasilianern ganz zu schweigen (ich muss zugeben: Auch ich kann die brasilianische Hymne nicht auswendig und habe mir gestern den Text nochmal angeschaut.)

Worum geht es da nochmal? Wieso singen die das alles so patriotisch und voller Inbrunst mit?

Es geht um die Freiheit, um die Liebe zum eigenen Land und die Schönheit desselben. Beim Confed Cup im vergangenen Jahr hatte es sich spontan eingebürgert, dass die Menschen im Stadion die von der FIFA verkürzte Hymne einfach weitersangen: Aus Solidarität mit den Menschen, die draußen zu Hunderttausenden gegen FIFA, Korruption und soziale Ungerechtigkeit protestierten, aus Patriotismus und um die Seleção anzufeuern.

Es war ein gemeinsamer, friedlicher, aber gewaltiger Ausdruck des Protestes und der Solidarität.

Angesichts der gestiegenen Unzufriedenheit im Land mit der Vorbereitung und Durchführung der WM 2014, mit der Politik und der FIFA sowieso war es klar, dass die brasilianischen Fans im Stadion auch bei der WM 2014 demonstrativ weitersingen würden.

Mal schauen, was daraus wird. Wird das pathetische Singen der Hymne zur bloßen Folklore oder wird es seine ur-eigene, politische Kraft entfalten? Und welche Kraft wird es sein?

Die Ansichten über den Umgang mit der WM im eigenen Land gehen ja durchaus weit auseinander.

Wenn deutsche Sportkommentatoren im Fernsehen sagen, das ganze Land stehe hinter der Seleção und „alle“ wünschten sich, dass Brasilien Weltmeister werde, dann ist das schlichtweg falsch.

Das mag vielleicht früher und bis zum Confed Cup so gewesen sein. Aber die Dinge ändern sich. Die Seleção läuft Gefahr, immer mehr als Teil des Systems (und Problems) wahrgenommen zu werden. Hochbezahlte Superstars wie Neymar repräsentieren nicht das Volk. Sie führen ein Jetset-Leben im Kreise der Mächtigen und Reichen, haben überwiegend den Kontakt zum Volk verloren.

Der im Ausland so hofierte und verehrte Pelé und der als Fenômeno gepriesene Ex-Weltfussballer Ronaldo (seines Zeichens Aushängeschild des Lokalen Organisationskomitees COL der WM 2014) haben sich längst durch dumme und realitätsverleugnende Kommentare diskreditiert.

Auch der ach so beliebte Ex-Präsident LULA, der während seiner höchst populären beiden Amtszeiten die WM nach Brasilien holte, weiß schon, wieso er die Spiele lieber am heimischen Fernseher statt im Stadion verfolgt. Denn auch er wäre vor einem Pfeifkonzert nicht gefeit. Und das würde sich jetzt sehr schlecht machen, es ist schließlich Wahlkampf (Ende Oktober sind Präsidentschaftswahlen) und die regierende Partei PT mit Präsidentin Dilma Rousseff wird vom politischen Gegner sowie wachsenden Teilen der Bevölkerung für das organisatorische WM-Desaster verantwortlich gemacht.

Auch Brasilianer sind ja nicht blind oder doof. Dass das Eröffnungsspiel gegen Kroatien keine sportliche Glanzleistung war, blieb auch ihnen nicht verborgen. Dass der japanische Schiedsrichter von Brasilien gekauft war, ist für viele Fakt (egal, ob es nun stimmt oder nicht).

Brasilianer verstehen viel von Fussball. Und sie haben genauso wie wir Wahnsinns-Spiele wie die Niederlande gegen Spanien und Deutschland gegen Portugal gesehen.

In sozialen Netzwerken wird offen darüber diskutiert, für welches Team man nun ist. Die Seleção steht nicht mehr zwangsläufig an erster Stelle. Es gibt sogar eine wachsende Zahl von Brasilianern, die wollen gar nicht, dass Brasilien die WM gewinnt, so sehr die Regierung, Medien und der Fussballverband auch dafür trommeln.

Weil ein WM-Sieg von den Problemen und der Politik ablenken würde. Weil er angesichts der alles andere als weltmeisterlichen Performance der brasilianischen Organisatoren schlicht und einfach unverdient wäre.

Die Seleção müsste sportlich schon sehr auftrumpfen, um die zweifelnden Brasilianer aus ihrem Seelen-Blues zu reißen. Und sie müsste darüber hinaus das Kunststück vollbringen, die brasilianischen Massen durch öffentliche Gesten hinter sich zu vereinen. Die Spieler stehen unter einem gewaltigen Druck.

Das gestrige Spiel gegen Mexiko im Castelão von Fortaleza (mit langem e und weichem s) war auch nicht dazu geeignet, die Unterstützerreihen zu schließen.

Die mexikanischen Kämpfer, allen voran Ausnahmetorwart Ochoa, glichen einer Festung, die einfach nicht zu bezwingen war. Das Spiel der Seleção war planlos, konfus, nervös. Auch vor schmutzigen Tricks schreckte man nicht zurück und Neymar erwies sich vor allem in der ersten Halbzeit noch mehr als Heulsuse als Cristiano Ronaldo am Vortag gegen Deutschland und ließ sich bei jeder Kleinigkeit theatralisch zu Boden fallen.

Immerhin: Er hatte die besten Torchancen und sein gefährlicher Kopfball wäre wahrscheinlich bei den meisten Torhütern reingegangen. Nicht so bei Guillermo Ochoa:

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Meine Sympathien gingen im Verlauf des Spiels immer mehr zur mexikanischen Seite über. Sie hätten eigentlich verdient, als Sieger vom Platz zu gehen.

Und die Seleção muss sich warm anziehen.

Wenn sie so weiterspielt, werden sie von den Niederländern und/oder Deutschen geradezu pulverisiert. Das DFB-Team muss beim gemeinsamen TV-Abend geradezu einen Höhenflug erlebt haben!

Es geschähe Brasilien recht.

Die Aussage, die Trainer Felipe Scolari im Februar gemacht hatte, es sei ja nicht so schwer, den Titel zu holen, sollte den sportlichen Gegnern dabei mehr als Ansporn sein.

Nach dem Motto: Zieht den Brasis die (Leder-)Hosen aus…

Hochmut kommt vor dem Fall. Und wenn die Brasilianer glauben, alle Welt würde ihnen liebend gern den sechsten WM-Titel schenken und gönnen, dann haben sie sich gewaltig geschnitten!!

Vor einem Jahr erwachte der Gigant. Und heute?

2 Gedanken zu „WM 2014: Brasilien vs Mexiko (Gruppe A)“

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