Die erste Runde der Gruppenspiele geht heute mit dem Spiel Belgien gegen Algerien, sorry: Russland gegen Südkorea zu Ende und die zweite beginnt mit Gastgeber Brasilien gegen Mexiko. Sportlich ist diese WM 2014 schon jetzt spektakulär: Viele Tore, hoch motivierte Teams, spektakuläre Siege wie das 5:1 der Niederlande gegen Spanien und das 4:0 von Deutschland gegen Portugal. Aber politisch? Was ist los mit den Brasilianern? Keine Lust mehr auf Massenproteste wie im vergangenen Jahr während des Confed Cups?
„O Gigante acordou“ – Der Gigant ist erwacht, hieß es vor einem Jahr, als die Erhöhung der Busfahrpreise in mehreren Metropolen des Landes das Fass zum Überlaufen brachte und der Unmut über die Milliardenkosten für die FIFA WM 2014 angesichts der Defizite im Bildungs- und Gesundheitswesen Millionen Menschen auf die Straßen trieb.
Diesmal haben sich Medien, Politik und Sicherheitskräfte auf neue Massenproteste eingestellt. Und was passiert? Nichts, zumindest noch nichts.
Brasilianer sind sehr kommunikativ und nutzen die Sozialen Medien exzessiv. Heute trendet landesweit der Hashtag #Há1AnoOGiganteAcordavaEHoje (Vor einem Jahr erwachte der Gigant und heute…) und animiert dazu, den Satz zu vervollständigen (übrigens ein sehr beliebtes Spiel der Brasilianer auf Twitter).
Hier einige Beispiele:
#Ha1AnoOGiganteAcordavaEHoje ta dormindo de novo hauahaua
— Beatriz NogueiraLS (@biarnogueira) 17. Juni 2014
…schläft er wieder.
#Há1AnoOGiganteAcordavaEHoje eu só quero sossego.
— Pilar (@JotaPilar) 17. Juni 2014
…will ich nur meine Ruhe haben.
vamos apenas curtir porque já esta feito e não há mais o que fazer.. #Há1AnoOGiganteAcordavaEHoje pic.twitter.com/0kvlMsL1Ux
— amanda (@amnndx) 17. Juni 2014
…lasst es (das Hashtag) zumindest teilen, denn er (der Protest) wurde schon gemacht und es gibt nichts mehr zu tun (außer den Politikern bei der Wahl im Oktober einen Denkzettel zu verpassen, wie der verlinkte Fototext besagt.)
#Há1AnoOGiganteAcordavaEHoje O BRASIL VAI GANHAR DO MÉXICO DE 2X0
— Andynho Boy Culture (@Andynhoculture) 17. Juni 2014
…wird Brasilien mit 2:0 Mexiko schlagen.
#Ha1AnoOGiganteAcordavaEHoje está colando figurinhas da Copa !
— Marcos Ribeiro (@MR172012) 17. Juni 2014
…klebt er WM-Bildchen (von Panini) ein.
#Há1AnoOGiganteAcordavaEHoje está torcendo pelo Brasil na #Copa2014
— ⚓ Lenine Ricky ⚓ (@leninehenrique) 17. Juni 2014
…fiebert er mit Brasilien bei der WM 2014. (Um nur einige Beispiele herauszupicken.)
Hier und da gab es schon Proteste, doch nur wenige nahmen teil und diese Proteste wurden von den massenhaft präsenten Sicherheitskräften im Keim erstickt.
So bleiben die Brasilianer lieber zu Hause, schauen sich die Spiele zusammen mit der Familie und Freunden am heimischen Fernseher an, meiden die Straßen und FIFA Fan Feste. Selbst die Ränge in den Stadien sind teilweise erstaunlich leer, wie das brasilianische Nachrichtenportal estadao (Link auf Portugiesisch) heute konstatiert.
Offiziellen Angaben zufolge sind alle Spiele praktisch ausverkauft. Doch in den Stadien herrschte teilweise gähnende Leere, wie z.B. bei der Begegnung der Schweiz gegen Ecuador am 15. Juni in der Bundeshauptstadt Brasília.
Auch bei den Live-Übertragungen der Expertengespräche von ARD und ZDF vom Hoteldach mit Blick zur Copacabana habe ich mich von Anfang an gewundert, wie wenig an der Copacabana los ist. Nur am Sonntag, dem traditionellen Strandtag in Brasilien, war es deutlich voller. Das waren aber vor allem die argentinischen Fans, die für das Spiel gegen Bosnien-Herzegowina im Maracanã-Stadion angereist waren.
Formiert sich da unabgesprochen ein stiller Massen-Protest gegen die FIFA und die brasilianische Politik?
Es sieht ganz so aus. Den untypischen, mangelnden Enthusiasmus der Brasilianer für die Weltmeisterschaft bekommt auch die heimische Textilindustrie schon zu spüren: Fanartikel liegen wie Blei in den Regalen, berichtet das Wirtschaftsnachrichten-Portal exame.com (Link auf Portugiesisch).
Die Copa (so nennen die Brasilianer die WM) im eigenen Land scheint den Brasilianern die Leidenschaft für den Fussball geraubt zu haben.
Die Brasilianer sind traurig und beschämt ob der Art und Weise, wie die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes diese WM organisiert haben. Und sie sind in der gemeinsamen Verachtung für die FIFA und deren Ignoranz und Arroganz gegenüber kulturellen Unterschieden vereint.
Wollen die Brasilianer ihr jetzt auf diese Weise eins auswischen? In dem sie alles meiden, womit sich der Weltfussballverband die Taschen vollmachen kann?
Nach dem Motto: Ihr habt uns mit euren Auflagen der Seele beraubt. Nun werden wir euch eures Gewinnes berauben?
Das wäre doch mal ein schönes Signal und weltweit zur Nachahmung empfohlen: #SayNoToFIFA, because they don’t care about us!
Nachtrag (17.06. um 15:21 Uhr): Inzwischen hat sich vermeintlich auch die Präsidentin Dilma Rousseff höchstselbst in die Diskussion eingeklinkt:
#Há1AnoOGiganteAcordavaEHoje eu estou assim pic.twitter.com/aEZHGAfxgd
— Dilma Rousseff (@DilmaRousselff) 17. Juni 2014
(Vor einem Jahr erwachte der Gigant und heute…BIN ICH SO)
Doch Vorsicht. Das ist nicht der Offizielle Account der Präsidentin. Der lautet nämlich @dilmabr.
Immerhin: Gestern erwachte ein anderer Gigant, nämlich Michael Schumacher. Das war ein Anstoß, der auch Brasilien wieder erwachen lässt…