Viel zu früh – Eine Tagung für Eltern und andere Profis


Jedes Jahr kommen in Deutschland ca. 60.000 Kinder vor der 37. Schwangerschaftswoche und damit als sogenannte Frühchen auf die Welt. Die meisten Eltern trifft dieses Ereignis völlig unvorbereitet und stellt sie vor ungeheure Belastungen. Eine Tagung, die an diesem Wochenende in Berlin stattfand, führte rund 120 Frühgeborenen-Eltern, Ärzte, Pflegekräfte, Elternberater und weitere Experten zusammen, um Erfahrungen und Informationen auszutauschen und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten.

Eine Frühgeburt ist ein Ereignis, das in seiner Dramatik für Außenstehende kaum zu erfassen und zu begreifen ist. Für die beteiligten Eltern, insbesondere die Mütter, erfüllt sie alle Kriterien eines Traumas und wird von Psychologen auf eine Stufe gestellt mit der traumatischen Erfahrung einer Trennung/Scheidung oder eines Verkehrsunfalls.

Vater hat Frühchen auf Brust
Känguruhen mit Noa Luna (2007)

Ich kann dies aus eigener Erfahrung nur bestätigen, denn unsere Tochter kam als zweites Kind gut drei Monate zu früh auf die Welt (SSW 26+3). Obwohl im Verlauf der Schwangerschaft absehbar war, dass sie zu früh auf die Welt kommen könnte, klammerten wir uns bis zuletzt an die schwache Hoffnung, dass doch noch alles gut gehen würde. Daher war der Tag, als dann doch kein Halten mehr war, bei aller Erwartbarkeit trotzdem ein einschneidendes Erlebnis.

Eine Frühgeburt versetzt Eltern in einen traumatischen Ausnahmezustand

Eine Frühgeburt ist mit der Angst und der Sorge um das (gesunde) Überleben der Kinder verbunden und verursacht bei der Mutter enorme Schuld- und Versagensgefühle, das Kind nicht länger im Körper gehalten zu haben. Die Intensivmedizin, mit der man dann schlagartig auf der Neonatalogiestation konfrontiert wird, mit dem winzigen, unreifen Kind, das im Inkubator liegt, von Schläuchen und Geräten umgeben, verstärkt noch die Schockwirkung.

Eltern sind in diesem Moment in einem völligen Ausnahmezustand, den wohl nur nachempfinden kann, wer es selbst erlebt hat.

Sie fühlen sich ausgeliefert, überfordert, hilflos. Alle ihre Träume und Idealvorstellungen von einer „normalen“ Geburt sind mit einem Mal zerplatzt, der komplette Alltag gerät aus den Fugen: Das Frühchen liegt für Wochen oder gar Monate im Krankenhaus, die Mutter unter Umständen auch.

Der Vater (so vorhanden) muss den Haushalt organisieren, eventuell ältere Kinder betreuen, seinem Beruf nachgehen, die Mutter trösten und ihr Kraft geben und nebenbei noch selbst mit seinen Emotionen klarkommen. Die Eltern müssen unter Umständen schwierige Entscheidungen treffen, die mit Leben oder Tod zu tun haben.

Kommunikation ist das A und O

Plenumssaal der TagungDas Außergewöhnliche und Besondere an der Tagung in Berlin war, dass hier nicht nur Menschen miteinander fachsimpelten, die beruflich mit dem Thema befasst sind, sondern dass der Fokus auf den Erfahrungen und Erlebnissen der zahlreich anwesenden Eltern lag (rund ein Drittel der Teilnehmer), die von den Fachleuten mit großem Respekt und Anerkennung aufgenommen und als gleichwertige Experten angesehen wurden. Ärzte, Schwestern, Elternberater, Psychologen dürsteten geradezu danach, aus erster Hand zu erfahren, was gut, was schlecht läuft und Anregungen dafür zu bekommen, was man in Zukunft besser machen kann.

Und es gibt sehr viel zu tun.

Weder in der Gesellschaft insgesamt, noch bei Krankenkassen, Jugendämtern oder der Politik ist die notwendige Sensibilität für das Thema vorhanden. Prof. Christine Ludwig-Körner aus Potsdam ging sogar so weit, die Gesellschaft als solche und die Neonatologie als Frühgeburt (unreif) zu bezeichnen. Nicht einmal in den auf Frühgeborene spezialisierten Krankenhausstationen kann man selbstverständlich voraussetzen, angemessen versorgt und betreut zu werden.

Aus den vielen Diskussionen, Gesprächen und Workshops konnte am Ende jeder Teilnehmer seinen Gewinn und seine Erkenntnisse ziehen.

Ein ganz wesentlicher Punkt ist die Kommunikation.

Und die beginnt schon in der pränatalen (vorgeburtlichen) Phase beim niedergelassenen Gynäkologen und im vorgeburtlichen Krankenhausaufenthalt der Mutter. Ärzte müssen darauf vorbereitet und geschult sein, eine Risikoschwangerschaft rechtzeitig zu erkennen und die Eltern auf die Risiken und Folgen einer Frühgeburt hinzuweisen.

Dazu gehört auch, sich die individuelle familiäre Situation anzuschauen und sich – sofern möglich – frühzeitig zu überlegen, wie der Alltag vor und nach der Frühgeburt organisiert werden könnte.

Spätestens nach der Geburt braucht es im Krankenhaus kompetente und vertrauenswürdige Ansprechpartner, die einem mit Rat und Tat zur Seite stehen und konkrete Hilfestellungen anbieten.

Überhaupt ist es wichtig, dass die Eltern auf der Station eine Bezugsperson haben, die ihnen über den Stand der Entwicklung ihres Frühchens Auskunft geben kann und an die sich die Eltern mit ihren Sorgen und Nöten wenden können.

Bei aller akuten Überforderung sollten sich Eltern nicht abspeisen lassen und ihr Recht auf Information und Einbindung in den Behandlungsprozess einfordern, sofern dies nicht von selbst geschieht. Sie dürfen sich nicht entmündigen und in eine Nebenrolle abdrängen lassen, bei der Ärzte und Pfleger darüber entscheiden, was mit dem Kind geschieht.

Mütter sollten ihrem mütterlichen Instinkt vertrauen und sich nicht der Alleinherrschaft der Apparatemedizin ausliefern.

Ideal wäre ein partnerschaftliches Miteinander aller Beteiligten, wo alle an einem Strang ziehen und ihre Kompetenzen und Fähigkeiten einbringen.

Zur gelungenen Kommunikation gehört auch, dass nachsorgende Kinderärzte und Pflegekräfte mit eingebunden werden. Denn viele Eltern machen nach der Entlassung des gereiften Frühchens aus der im besten Fall optimalen Versorgung im Krankenhaus die Erfahrung, plötzlich allein gelassen zu werden.

Beratungsangebote vor und nach der Frühgeburt

Für Frühcheneltern ist es enorm wichtig, dass die Beratungs- und Betreuungsangebote auch nach der Entlassung bestehen bleiben. Erst recht, wenn das Frühgeborene bleibende oder vorübergehende Schäden davon getragen hat. Denn die Heimkehr eines Frühchens ist nicht vergleichbar mit der Heimkehr eines „normal“ geborenen Kindes.

Für die Eltern muss es freiwillige Angebote geben, das Erlebte zu verarbeiten und praktische Hilfe jedweder Art in Anspruch zu nehmen.

Der medizinische Fortschritt in der heutigen Neonatologie ist ungeheuer und nicht vergleichbar mit dem, was vor zehn, 20 oder gar 30 Jahren nur möglich war. Heutzutage haben Frühchen schon ab der 22. SSW eine Überlebenschance.

Und vor allem eines sollten sich betroffene Eltern in der akuten Situation ganz klar machen:

Bruder und Schwester umarmen sich
Noa mit ihrem grossen Bruder (2011)

Eine Frühgeburt bedeutet nicht automatisch, dass das Kind bleibende Schäden davonträgt, genauso wenig wie es eine Garantie dafür gibt, dass ein „normal“ geborenes Kind gesund auf die Welt kommt oder bleibt!

Jeder Fall ist individuell und einzigartig. Wunder geschehen immer wieder!

Den Organisatoren von „Viel zu früh – Eine Tagung für Eltern und andere Profis“ gilt ein besonderer Dank, insbesondere Dr. Dieter Hüseman und dem Förderverein für frühgeborene Kinder an der Charité Berlin. Sie haben Außergewöhnliches geleistet! Finanziell unterstützt wurde die Veranstaltung von der Aktion Mensch.

Am 17. November wird der „Preemie Day“ begangen, der Internationale Tag des Frühgeborenen. Er soll dazu beitragen, die Öffentlichkeit auf das Thema aufmerksam zu machen und sie dafür zu sensibilisieren.

Weiterführende Informationen und nützliche Links:

Tagungsprogramm „Viel zu früh“

Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V.

Facebookseite des Bundesverbandes „Das frühgeborene Kind“ e.V.

Förderverein für frühgeborene Kinder an der Charité e.V.

FamilieNetz Dresden, Elternbegleitung an der Universitätsklinik Dresden

Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln

Anfang des Artikels „Viel zu früh – Eine Tagung für Eltern und andere Profis“

5 Gedanken zu „Viel zu früh – Eine Tagung für Eltern und andere Profis“

  1. mmh, es bleibt ein grosses thema in unserem leben – auch nach einer von psychologen und freunden unterstuetzten verarbeitung. und diese tagung, die muss jetzt erst einmal in ruhe verdaut werden. die nun daraus folgenden kontakte werden wieder kraft kosten – und kraft spenden, da bin ich sicher! vielen dank fuer deinen artikel, ap

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