Mineirãonaço!

Was für ein Spiel! Im Halbfinale der Fussball-WM 2014 in Brasilien schlug die deutsche Nationalmannschaft im Mineirão-Stadion von Belo Horizonte die brasilianische Seleção mit 7:1 Toren! Gastgeber Brasilien ist mit Pauken und Trompeten aus dem Turnier geschossen worden. Die Niederlage übertrifft alles bisher Dagewesene. In Anlehnung an die Schmach von 1950, das als Maracanaço in die Fussballgeschichte einging, muss man nun von einem Mineirãonaço sprechen.

Kann eine Niederlage demütigender sein? Nach alle den großen Versprechungen, all den großen Hoffnungen, all den großen Sprüchen, im eigenen Land das Hexa (den sechsten Stern) komplett zu machen und Weltmeister zu werden?

Brasilien ist im Halbfinale von der bestens aufgelegten deutschen Nationalmannschaft dermaßen in Grund und Boden gestampft worden, dass einem erst einmal alle Worte fehlten.

Ohne den verletzten Superstar Neymar im Sturm und den gesperrten Kapitän und Abwehrchef Thiago Silva glich die brasilianische Mannschaft einem orientierungslosen Hühnerhaufen.

Aus vollen Kehlen hatten sie im kanariengelb dominierten Mineirão-Stadion von Belo Horizonte noch alle die Nationalhymne hinausgeschrieen, sangen von ihrem Stolz, Brasilianer zu sein und ihrer unverbrüchlichen Liebe zu diesem Land.

Doch es brauchte nur wenige Minuten, um diesen Stolz in einen Scherbenhaufen zu verwandeln. Die Überlegenheit der Deutschen war überwältigend. Innerhalb von gerade mal 18 Minuten schenkten die Deutschen den hilflosen Brasilianern ein Tor nach dem anderen ein:

11. Minute: Thomas Müller

23. Minute: Miroslav Klose (mit nun insgesamt 16 WM-Toren alleiniger bester WM-Torschütze aller Zeiten, vor Ronaldo)

24. Minute: Toni Kroos

26. Minute: Toni Kroos

29. Minute: Sami Khedira

Mit einem 0 x 5 ging es für die Brasilianer in die Halbzeitpause. Auf den Rängen, Fan Festen und heimischen Fernsehern herrschte schon jetzt bei den Brasilianern absolute Fassungs- und Sprachlosigkeit. Tränen, Tränen, Tränen.

In der zweiten Halbzeit bemühten sich die Brasilianer redlich, irgendwie wenigstens doch noch einen Trosttreffer hineinzubekommen.

Die Deutschen blieben konzentriert, aber ohne den unbedingten Willen, das ohnehin starke Ergebnis nun zu einem völligen Fiasko für den Gastgeber werden zu lassen.

Doch die völlig demoralisierte brasilianische Mannschaft bot dem Gegner so viele offene Flanken, dass der eingewechselte André Schürrle die Einladung gerne annahm und den Brasilianern in der 69. und 79. Minute noch zwei Tore einschenkte.

In Brasilien war Tag der Offenen Tür.

In der 90. Minute bekam Brasilien dank Oscar und sehr zum Ärger des wieder überragenden Manuel Neuer noch sein Trostpflaster. Doch die Erniedrigung und Blamage war damit nicht auszuradieren.

Diese Niederlage sitzt und bleibt für die Ewigkeit in den Fussball-Annalen.

Niemals hat Brasilien ein Spiel so hoch verloren, niemals hat überhaupt eine Mannschaft in einem WM-Halbfinale so hoch verloren.

Es herrscht absolute Fassungslosigkeit. Niemand hatte ad hoc eine Erklärung dafür parat.

Doch die Diskussion um die Ursache für ein so niederschmetterndes Ergebnis hat längst angefangen.

Und die ist auch notwendig. Brasilien muss mit sich selbst hart ins Gericht gehen, sich ehrlich, selbstkritisch, sachlich und konstruktiv mit den Ursachen auseinandersetzen und daraus seine Schlüsse ziehen.

Diese Niederlage nur auf das Fehlen von Wunderstürmer Neymar und Abwehrchef Thiago Silva zu reduzieren, wäre zu kurz gedacht. Sicher: Das Fehlen dieser beiden Spieler war ein riesiger Verlust.

Deutschland hatte auch seine Schwierigkeiten gegen Algerien, weil Mats Hummels wegen eines Infektes ausgefallen war. Ohne Lahm und Müller hätte Deutschland in einem so wichtigen Spiel wohl auch mit Abstimmungsproblemen zu kämpfen gehabt.

Trotzdem darf das keine Entschuldigung sein. Solche Ausfälle passieren vor und während wichtigen Turnieren. Eine Mannschaft, die solche Ausfälle nicht kompensieren kann und in einem solchen Abhängigkeitsverhältnis zu bestimmten Spielern steht, ist sehr verwundbar.

Brasilien schien dies durch eine besonders hohe Motivation kompensieren zu wollen und zu können. #ForçaNeymar (StärkeNeymar) wurde zum Kampfslogan. Jedes Tor und der Sieg sollten dem Heroe gewidmet werden, nach dem Motto: Jetzt erst recht!

Doch kaum waren das erste und dann das zweite Tor der Deutschen gefallen, brach dieser Stolz und dieser Trotz wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Torhüter Júlio César, beim Elfmeterfinish gegen Chile praktisch zum Stellvertreter Gottes auf Erden aufgestiegen, ging nach dem 7. Tor der Deutschen nur noch geschlagen zu Boden.

Ich schaute das Spiel zu Hause mit meinen Kindern und brasilianischen Freunden. Als die Deutschen in der ersten Halbzeit ihr Torfeuerwerk zündeten, glich eine brasilianische Freundin nur noch einem Haufen Elend und begann, ihre brasilianische Identität zu verleugnen. Sie schäme sich, Brasilianerin zu sein. Und so lange, wie sie nun schon in Deutschland lebe und so gut, wie dieses Land sie behandle, würde sie jetzt für Deutschland sein.

Es gibt viele, die so reagierten, wenngleich dies nur eine Stimme von vielen ist und in keinster Weise repräsentativ.

Aber natürlich ist klar, dass ein Nationalstolz keinen Pfifferling wert ist, der allein vom Erfolg oder Misserfolg in einem Fussballturnier abhängt.

Ein reflektierterer Umgang mit den Ursachen findet sich z.B. in einem Kommentar, der im brasilianischen Portal estadao publiziert wurde.

Der Autor prangert dort v.a. die fehlende Kontinuität in der Nationalmannschaft an und nimmt Deutschland als positives Gegenbeispiel.

Während in Deutschland seit Jahren große Kontinuität herrsche, sowohl bei der Ausbildung, dem Trainerteam wie bei den Spielern, werde in Brasilien ständig alles über den Haufen geworfen und wieder bei Null angefangen.

Der brasilianische Historiker Marcos Alvito beklagt in dem Artikel ausserdem die Ausbeutung junger brasilianischer Talente:

Es gibt eine Serienproduktion von Spielern, nur um sie zu verkaufen. Ich stelle fest, dass an der Basis keine ethischen Werte existieren. Die Jungs werden in absurdester Weise ausgebeutet, und wenn sich einer verletzt, ist es vorbei mit der Karriere. Viele enden in der Sucht oder der Kriminalität.

Der Fisch stinkt vom Kopfe her, sagt man in Deutschland. Und das gilt auch und vor allem für den brasilianischen Fussballverband CBF, der gleichsam die Inkarnation der Korruption und ein Verein von Banditen ist.

Aber die Ursachensuche muss noch viel tiefer gehen.

Es ist vieles faul im Staate Brasilien (und keineswegs nur dort…).

Die Gesellschaft als Ganzes leidet unter der ungleichen Verteilung des vorhandenen Reichtums, an mangelndem Verantwortungsbewusstsein, an mangelnder politischer Partizipation und Pluralität.

Wenn der Erfolg der Nationalmannschaft der einzige Kitt ist, der dieses vielschichtige, widersprüchliche, zerrissene, multikulturelle Land zusammenhält, dann ist das zu wenig.

Abgesehen davon, dass ich nicht so pessimistisch wäre, weil Brasilianer durchaus auch andere Gründe haben, auf ihr Land stolz zu sein, so wäre es die vorrangige Aufgabe für die Zukunft, daran zu arbeiten, auch auf andere Dinge stolz sein zu können.

Deutschland lag nach dem 2. Weltkrieg in Trümmern, moralisch wie materiell.

Es hat sich aufgerafft und ist auferstanden aus Ruinen. Das war schwer, das war mühsam, das war ein harter Kampf, der viel Kraft und Ausdauer erforderte.

Und auch heute hört das Ringen um eine bessere Zukunft nicht auf, nicht einmal in einem so wohlhabenden Land wie Deutschland.

Deutschland hatte als europäisches Kernland den Vorteil, trotz der Stunde Null nicht bei Null anfangen zu müssen. Denn es konnte auf einer langen Historie aufbauen und auf einer starken Bildungsschicht, die bereit und fähig war, sich zu engagieren, mit Rat und Tat einzubringen.

Brasilien hat nur eine kurze (Kolonial-)Geschichte und das Bildungsniveau ist beklagenswert.

Es ist also ein weiter Weg, der vor Brasilien liegt.

Aber die Zukunft muss jetzt beginnen.

ForcaNeymar

Halbzeitbilanz der WM 2014 in Brasilien

Eigentor für Brasilien

3 Gedanken zu „Mineirãonaço!“

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