Kollektivschuld – Kollektivchance

Als Deutscher, der im Vor-März der internationalen Studentenrevolten von 1968 geboren wurde, welche ihren Eltern der Kriegsgeneration die pseudo-tugendhafte Maske vom Gesicht riss, war die freiwillige bis unfreiwillige Auseinandersetzung mit der Hitler-Ära erste Bürgerpflicht. Uns allen wurde eingetrichtert, dass Rassismus, Nationalismus, Faschismus, Antisemitismus Teufelszeug sind und wir Deutsche die Letzten sind, die international gegenüber anderen auftrump-fen können. Solcherart mit einem kollektiven Büßerhemd ausgestattet, war eine der am heißesten diskutierten Fragen die der deutschen Kollektivschuld. Gibt es so etwas wie eine Kollektivschuld? Oder ist Schuld nicht doch immer etwas rein Individuelles?
Die Art und Weise, wie Länder weltweit auf die Covid-Pandemie reagiert haben, insbesondere Deutschland, liefert eine Antwort auf diese Frage.

Ja, es gibt eine Kollektivschuld, ohne Frage! Nicht nur der Einzelne, sondern auch und gerade eine „Gemeinschaft“ – wie auch immer sie zusammengesetzt ist – können versagen und als Kollektiv irreversible Schäden verursachen und Schuld am Scheitern haben.

Genauso, wie sich die Überlebensfähigkeit eines Individuums daran bemisst, wie gut es die erwarteten wie unerwarteten Herausforderungen des Lebens erkennt und meistert, so bemisst sich die Stärke einer Gesellschaft daran, wie gut und effektiv sie darin ist, gesellschaftliche Probleme vereint zu lösen.

Man kann den Deutschen ja nun beileibe kein mangelndes Know-How, mangelnde Bildung vorwerfen. Im Gegenteil. Zumindest meine Generation, die in den 60er Jahren geboren wurde, fand alles in allem eine sehr ausgereifte und qualitätvolle  Bildungslandschaft vor mit guten beruflichen Perspektiven, sowohl im staatlichen wie privaten Sektor.

Es ist eigentlich unsere geburtenstarke Generation, die jetzt den Ton angibt bzw. angeben sollte, da sie im Laufe des Berufslebens überall an die entsprechenden Schaltstellen gekommen ist (sofern sie nicht längst outgesourced, wegrationalisiert wurde) und über die notwendige Lebenserfahrung verfügen sollte, um sowohl die Vergangenheit zu kennen, als auch die Zukunft (unserer Kinder) zu gestalten.

Leider, muss ich gestehen, sind unsere Nachkommen echt gearscht, ihr Schicksal ausgerechnet in den Händen der Baby-Boomer zu sehen! Denn wir sind eigentlich schon durch und mit unserem Latein am Ende, denn uns sind die Dinge, von den Meisten weitgehend unbemerkt und unbeabsichtigt, längst entglitten…

So kommt es mir persönlich gegenwärtig jedenfalls vor.

Wir sind ja selber Kinder unserer Zeit, wurden in eine komplexe Welt hineingeboren, die sich rasend schnell beschleunigte, und wurden mit diesen Zeitenwenden mitgespült und fortgerissen. War ein Problem gelöst (Die Mauer), tauchten die nächsten auf (Migration, Globalisierung, Umweltzerstörung, Disruption, Terrorismus etc. pp).

Ich persönlich war zwar immer jemand, der enge Kontakte zu allen Generationen pflegte, aber natürlich habe ich mich trotzdem überwiegend in der Cloud meiner geburtenstarken Generation bewegt, von der Schule über den Zivildienst und das Studium bis zum Berufsleben. Ich kenne also unzählige Menschen meiner Generation aus unmittelbarer Nähe, ich kenne ihre Lebenswege, ihre Meinungen, ihre Einstellungen.

Und da bestätigt sich, was eigentlich schon in der Schulzeit erkennbar war: dass wir Kinder der Studentenrevolte – von Ausnahmen abgesehen – eher unpolitisch, dafür aber hedonistisch-kapitalistisch orientiert waren/sind. Nicht zufällig entwickelte sich der Popper-Trend in den 80ern, die ohnehin von Marktliberalismus und Wohlstand geprägt waren: adrett gekleidete und frisierte junge Menschen, welche das totale Gegenteil von Flower-Power-Hippie-Kultur darstellten und musikalisch von der Neuen Deutschen Welle begleitet wurden!

„Öko“ zu sein, galt geradezu als Schimpfwort. Ich weiß das besonders, weil meine drei Jahre ältere Schwester noch zu einer verbliebenen Schul-Clique von „Ökos“ mit „Jesus-Latschen“ und Patschuli-Duft gehörte, während ich selber bei aller Sympathie einen nüchterneren Blick auf die Welt pflegte, in der insbesondere die Medienlandschaft eine enorme Faszination auf mich ausübte: Ich wollte möglichst nah dabei sein, wo sich das Weltgeschehen abspielte!

Es ist bezeichnend, dass die meisten aus meiner Jahrgangsstufe wenig Ambitionen hatten, was gesellschaftliche Teilhabe und soziales Engagement anging. Zu den beliebtesten Studiengängen gehörten BWL, Jura und Medizin, vor allem Zahnmedizin. Nicht etwa, weil man sich dafür interessierte, sondern weil es später die besten Gehälter zu verdienen versprach. Wobei BWL bei denjenigen das Ausweichfach war, die für Medizin zu dumm bzw. einen zu schlechten Abi-Abschluss hatten, nach dem Motto: „Wer nichts wird, wird Betriebswirt.“ Das war so eine Art Generalschlüssel, mit dem man in vielen Bereichen Karriere machen konnte, am liebsten bei einer Bank oder später bei einer Unternehmensberatung, die im Laufe der 90er und Nuller-Jahre wie Pilze aus dem Boden schossen.

Da ich inmitten der Kirch-Pleite und der „Heuschrecken-Plage“ bei der ProSiebenSat1 Media AG beschäftigt war, habe ich viele dieser Schlipsträger kommen und gehen sehen. Es waren meist junge Karriere-Juppies, die weder über Intellekt noch über emotionale Intelligenz  verfügten. Das einzige, was zählte, war der maximale Profit. Menschliche Mitarbeiter (Human Resources) waren reine Verfügungsmasse, die nach Bedarf und Belieben allokiert, outgesourcet oder outgeplacet (vor die Tür gesetzt) werden konnte.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, Betriebs- und Arbeitsprozesse laufend zu optimieren und effizient zu gestalten. Aber trotzdem darf die Menschlichkeit dabei nicht draufgehen. Und die geht freilich total vor die Hunde, wenn man als treuer Mitarbeiter wie gewünscht die Firma zu seinem Lebensinhalt und seiner Ersatzfamilie erklärt hat und dann eines Tages trotzdem kalt und herzlos fallen gelassen wird wie eine heiße Kartoffel.

Dieses Trauma – denn nichts anderes ist es – hat sehr viele meiner Generation und davor und danach ereilt.

Das ist ein Bruch in der Biografie, ein Einschnitt im Leben, der umso heftiger ist, je aussichtsloser das Unterfangen, auf selbem oder gar höherem Niveau wieder einsteigen zu können, ohne sich selbst und seine Prinzipien zu verraten.

Als ich Ende 2010 nach gut zehn Jahren Zugehörigkeit betriebsbedingt gekündigt wurde, befand sich die Medienlandschaft bereits inmitten eines disruptiven Prozesses, der vor allem von der rasanten Entwicklung des Internets und der Digitalisierung  des Alltags getrieben wurde.

Der Arbeitsmarkt war eng, jedenfalls für einen Journalisten „der alten Schule“, dem Inhalte und Fakten wichtiger waren als Klicks und Narrative.

Waren die ersten Jahre bei dem privaten Nachrichtensender, wo ich arbeitete, noch von viel inhaltlicher wie gestalterischer Freiheit geprägt, wiesen die Quoten immer mehr den Weg: relevant war, was Aufmerksamkeit brachte und für’s Unternehmen opportun war.

Einer der Lieblingssätze meines damaligen, gleichaltrigen  Redaktionsleiters war: „Ich lass mir eine gute Geschichte doch nicht durch zu viel Recherche kaputt machen!“ Das sagte er zwar durchaus mit einem Augenzwinkern, aber es spiegelte die herrschende Attitüde wider: ist eine Geschichte zu trocken, muss man sie boulevardesk aufpeppen, damit auch der letzte Depp vor’m Fernseher dranbleibt und nicht abschaltet.

Ich habe hier im Blog ja schon an mehreren Stellen beklagt, dass meine Tätigkeit beim Privat-Fernsehen sowie das Aufkommen der Sozialen Medien mehr als deutlich haben zutage treten lassen, wie einfach gestrickt die breite Masse doch ist, wie sehr sie von reinen Affekten gesteuert, wie wenig mit Reflexion gesegnet ist.

Es bleibt wohl nicht aus, dass viele mit den Jahren zynisch werden oder resignieren, weil die reale Welt da draußen doch nur ein Zerrbild der idealen ist.

Und da sind wir wieder bei der Kollektivschuld: wenn eine Gesellschaft aus Ignoranz, Dummheit und/oder Profitsucht nichts anderes tut, als dem Affen ständig Zucker zu geben, muss sie sich nicht wundern, wenn er eines Tages an Diabetes verstirbt.

Ich fand diese Entwicklung der Medienbranche und damit der Gesellschaft als Ganzes schon immer bedenklich. Die Macht der Medien faszinierte mich gleichermaßen wie sie mich anekelte.

Aber es war der Lauf der Zeit, den niemand hätte aufhalten können.

Der technologische Fortschritt, die globalen Veränderungen waren so rasant, dass allein das meine Generation permanent (über)forderte. Während unsere Eltern noch ein ganzes Berufsleben bis zur Rente oder Pensionierung ohne Brüche durchziehen konnten, mussten wir erfahren, dass unsere Biografien Brüche haben und die Rente alles andere als sicher ist, selbst wenn wir fleißig eingezahlt haben.

Nun befindet sich die Menschheit dank der Corona-Krise an einem existenziellen Scheideweg:

Entweder, sie lässt die Dinge weiter so laufen, dann versinkt sie in ein menschenverachtendes Inferno mit totaler Überwachung und Konditionierung.

Oder besonders meine Generation (von denen viele zumindest große Erbschaften im Rücken oder in Aussicht haben) gibt sich einen Ruck und übernimmt Verantwortung und das Helft des Handelns in die Hand!

Eine Transformation von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ist so oder so unausweichlich. Wir befinden uns bereits mitten drin.

Die Frage ist, ob sie zugunsten einiger weniger oder der Allgemeinheit ausgeht.

Wenn die Allgemeinheit jedoch teilhaben will, dann muss sie sich auch erheben und die Ärmel hochkrempeln. Denn von nichts kommt nichts. Und zu erwarten, dass irgendjemand Mächtiges, bestenfalls sogar Gott höchstselbst, als Retter eingreifen würde, ist zumindest leichtsinnig, wenn nicht aussichtslos, und außerdem feige.

Vielleicht ist das sogar das größte Defizit meiner Generation: wir sind in guten Zeiten aufgewachsen und haben uns eine hedonistisch geprägte Ego-Kultur angeeignet, die lieber genießen und bedient werden will, statt selber anzupacken und zu gestalten.

Der Wille zur Veränderung muss aber von innen heraus kommen. Er muss so stark sein, dass man zur Not sogar bereit ist, ALLES in die Waagschale zu werfen, was man hat, im Zweifelsfall sogar das eigene Leben.

Denn besser als ein Leben in Sklaverei ist, sein Leben für die Freiheit – und wenn es nur die der Verbliebenen ist  – zu opfern.

Ist die Freiheit erstmal verloren, ist sie umso schwerer zurückzugewinnen (genauso wie es besser ist, garnicht erst im Gefängnis zu landen, statt aus ihm ausbrechen zu müssen.)

Das geht nur im Kollektiv. Denn für den Einzelnen sind die Eliten zu mächtig, als dass man sie bezwingen könnte.

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