In Paradise

Vielleicht haltet ihr mich langsam für übergeschnappt. Aber es ist wie ich es sage. Porto Seguro ist auch über 500 Jahre nach dem Beginn der Entdeckung Brasiliens von genau diesem Ort aus etwas ganz Besonderes. Ein Kraftfeld. Ein Paradies von vielen hier in Brasilien.

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wohl gewesen sein mag, als im Jahr 1500 der portugiesische Seefahrer Cabral mit seiner Flotte das heutige Brasilien entdeckte. Es muss unbeschreiblich schön gewesen sein, was die streng katholischen Südeuropäer dort zu sehen und zu hören bekamen.

Selbst jetzt, über 500 Jahre später, ist die Natur und die Energie hier umwerfend. Wie muss es erst damals gewesen sein? Eine Flora und Fauna, die vor Vielfalt und Artenreichtum nur so explodierte, ohne die heutigen Straßen und Häuser, nur mit den einfachen Hütten der Ureinwohner bebaut. Es muss ein wahres Paradies gewesen sein.

Ich stelle mir vor, dass dieser große Flecken Erde damals eine solch unfassbar große Menge an positiver Energie über den weiten Ozean ausgestrahlt haben muss , dass sie die Seefahrer Sirenen gleich angelockte. Wie ein millionen-, ach milliardenfacher Ruf aus einem Munde: Kommt her! Spielt mit uns! Redet mit uns! Hier gibt’s was zu sehen und zu erleben!

Wie eine Gedenktafel im Memorial von Porto Seguro erzählt, waren die ersten Kontakte zwischen den Entdeckern und den Nativen sehr freundlich und respektvoll. Schon zwei Tage nachdem beim heutigen Porto Seguro Anker gelegt wurde, gab es große Verbrüderungsszenen zwischen Portugiesen und Ureinwohnern. (Von denen übrigens immer noch Nachfahren hier leben und ein geschütztes Areal haben.)

Nicht nur in Porto Seguro, in weiten Gegenden Brasiliens findet man noch eine natürliche Ursprünglichkeit, die faszinierend ist und in der zivilisierten Welt so nicht existiert.

Hier spürt man noch am eigenen Leibe und mit allen Sinnen, was „Natur“ überhaupt ist und heisst.

Etwas Ungezähmtes, Freies, Wildes, Schönes, Artenreiches. Aber auch Gefährliches. Vor allem,  wenn man sie nicht zu respektieren weiß.

Auch der Mond, der Wind, die Gezeiten. Die Sonne. Sie spielen hier auf der ganzen Klaviatur ihrer Möglichkeiten.

Überhaupt der Mond. Er war zuletzt ganz schön launisch. Versteckte sich, tauchte wieder auf, machte vorletzte Nacht die Hunde schier verrückt.

Es war gespenstisch. Es lag etwas in dieser schwülen, reglosen Luft, das alle Tiere außer den Hunden verstummen ließ.

Bei dieser Gelegenheit wurde mir wieder einmal die Klugheit der hiesigen Architektur bewusst. Die Häuser und Wohnungen sind im Idealfall den mikro- und makroklimatischen Gegebenheiten angepasst. Es steckt ein bewusster Plan dahinter, wie das Haus ausgerichtet ist, welche Fenster und Türen wie und wo platziert sind. Wenn man diese Luftzufuhrorte klug öffnet, entsteht ein starker (warmer) Luftstrom, der die Wohnung durchzieht und die Schwüle etwas erträglicher macht. Damit die Fenster und Türen durch den Zug nicht zuknallen, gibt es einfache Vorrichtungen, wie fest im Boden befestigte Metallklammern, in die man die Türen einrasten kann, ein kleines Badezimmerfenster, das sich nur wie eine Drehtür bewegen lässt, auf halbem Weg aber durch einen schrägen Holzsteg aufgehalten wird. Oder die Eingangstür, die sich nur halb öffnen lässt, weil sie sich dann auf dem Fliesenboden verkantet. Oder das Schlafzimmerfenster, wo das Holz so sperrig ist, dass man es ohne größere Kraftanwendung gerade mal einen Spalt breit aufkriegt. Und dann ist da die große Tür zur Veranda, die sperrangelweit aufstehen kann und im schlimmsten Falle von einem Langhaarteppich gebremst wird. Simpel, aber genial. Brasilianisches Feng Shui eben.

Mit dem gespenstischen Wetter war auch das Meer fast mit einem Schlag in eine Große Ebbe getreten, förderte weite Sandflächen zutage, welche man die Tage zuvor nicht einmal erahnt hätte.

Das Wetter war ebenfalls launisch: viele, auch düstere Wolken, die sich in plötzlichen, kräftigen tropischen Regenfällen entluden. Hier und da ein Gewitter. Und trotzdem selbst in den „kältesten“ Momenten 30 Grad warm.

Viele, die hier Urlaub machen, beklagten das schlechte Wetter.

Ich erwiderte stets, für mich sei es optimal. Denn beim schweißtreibenden Radfahren sei es angenehmer, wenn man vom Regen erfrischt werde.

Ich mache meine Nachbarn schon ganz närrisch mit meiner Radfahrerei. Einer hat jetzt vor zwei Tagen angefangen, sein fettes Allrad-Auto öfter stehen zu lassen und lieber mit dem Rad zu fahren, sogar bis ins 7 km entfernte Zentrum.

In dieser geheimnisvollen Nacht spürte ich, dass sie das Vorspiel zu einer gewaltigen Explosion war:

Es war die Sonne, die am nächsten Tag endlich das Zepter wieder an sich riss und in all ihrer gewaltigen Pracht und Herrlichkeit vom azurblauen Himmel mit seinen großartigen Wolkenformationen strahlte.

Ein Strandpanorama in Cinemascope XXL. Mit brillanten Farben, die kein noch so teurer Flachbildfernseher widergeben kann.

Eine Explosion der Freude. Denn Sonntag ist in Brasilien Strandtag. Da zieht es alle ans Wasser, und wenn das Meer zu weit weg ist, an andere Wasserstellen wie Flüsse, Wasserfälle, Seen.

Die gute Sonne ließ ihre Anbeter nicht im Stich und bescherte ihnen einen wunderbaren Strandtag, der keine Wünsche offen ließ.

Was für ein Schauspiel! Vor dem Tôa Tôa dachte ich, man müsste eine lange Schiene zwischen Wasserkante und der ersten Sitzreihe entlangführen und eine Kamera darauf montieren mit einem großen Weitwinkel, um dann eine langsame Kamerafahrt an der ersten Reihe vorbei zu machen.

Sie sind so süß, die Brasilianer. Lustig, verspielt, lebendig, kommunikativ. Wie ein Haufen bunter exotischer Vögel.

Und die Natur tut es ihnen gleich (oder die Menschen der Natur?). Da wird geplappert und gequietscht, gepfiffen, gesummt, gebellt, gesurrt, gegurrt, gepiept, was das Zeug hält. Irre!

Es kommt hinzu, dass hier alles irgendwie zusammenpasst und sich fügt, bis ins allerkleinste Puzzleteil.

Ich bin seit über einer Woche hier in Porto Seguro und habe jeden Tag, so unterschiedlich sie auch verliefen, als perfekten Tag erlebt. Es ist, als gäbe es keine Zufälle. Als hätte alles, so wie es geschieht, einen Sinn und sei gewissermaßen eigens für mich arrangiert. Das klingt verrückt, aber es ist so.

Wanderung am Strand entlang bis ins Zentrum von Porto Seguro

Nehmen wir meinen vorgestrigen Tag.

Ich war am frühen Morgen von der Ilha dos Aquarios per Motortaxi zu meinem vorübergehenden zu Hause in Mundaí zurückgekehrt. Mein Fahrrad hatte ich an der Anlegestelle zurückgelassen.

Mit dem Motortaxi hatte ich mein ganzes Geld ausgegeben und musste unbedingt zu einem Geldautomaten, um mich weiter zu versorgen.

Der nächste Geldautomat ist gar nicht so weit entfernt. Er steht in einer Apotheke, die neben der Tankstelle an der Küstenstraße angesiedelt ist, ca. 1 km entfernt. Dort ist das Gebiet von besser zahlenden Pauschalurlaubern, die sich nicht groß von denen anderer Nationen unterscheiden: Ignorant und arrogant mit affektiertem Neureichen-Getue und -Gemache.

Der Automat akzeptiert internationale Karten, aus unerfindlichen Gründen aber meine nicht. Ich sollte es auf Ratschlag des arroganten Mitarbeiters mehrmals versuchen, was aber ein Brasilianer verhinderte, der offenbar zum ersten Mal in seinem Leben an einem Geldautomaten stand und darüber hinaus gleich mit drei verschiedenen Karten Bankgeschäfte erledigen wollte.

Einmal ließ er mich auf ausdrückliches Bitten hin mal dazwischen, beim zweiten Mal vertröstete er mich darauf, doch gleich fertig zu sein, was aber ein frommer Wunsch war.

Ich fragte den arroganten Apotheken-Mitarbeiter, ob es nicht eine andere Möglichkeit gebe. Ich würde etwas kaufen, er würde einen höheren Betrag berechnen und mir das Wechselgeld in bar geben, damit ich den Bus ins 7 km entfernte Zentrum bezahlen kann, wo ein Bankautomat steht, von dem ich weiß, dass er meine Karte akzeptiert.

Die in Brasilien normale Antwort wäre gewesen: Ja, klar. Hier hast Du 5 oder 10 Reias. Fahr in die Stadt, zieh dein Geld, komm zurück und gib mir den geliehenen Betrag zurück. (Das ist in der Tat und wahrhaftig die hilfsbereite Art und Weise, die in Brasilien Gang und Gäbe ist.)

Aber da war ich ausnahmsweise mal an den Falschen geraten. Der Mitarbeiter zeigte nicht das geringste Mitgefühl, musterte mich nur, als wäre ich ein mittelloses Nichts.

Ich verließ verärgert die Apotheke und entschied, dann eben am Strand entlang zu Fuß ins Zentrum zu laufen.

Es hätte sich nicht besser fügen können.

Denn nur auf diese Weise nahm ich überhaupt mit großem Erstaunen zur Kenntnis, wie stark das Meer sich zurückgezogen hatte. Das hatte ich hier noch nie so gesehen.

Man hatte plötzlich viel mehr Platz zum Laufen, der feuchte Sand war flach, fest und hart wie Asphalt. Sogleich stand fest, dass mein Rückweg auf dem Fahrrad hier entlang führen würde.

An einer Stelle machte der Strand eine starke Biegung nach links. Ich konnte den Weg deutlich abkürzen, wenn ich mich knietief ins Wasser begab. Das war ein wunderbares Krafttraining für die Ober- und Unterschenkel, wie es mir kein noch so schickes Fitnessstudio bieten kann.

Als ich den Stadtrand von Porto Seguro erreichte, hatte das Meer auch die Felsen und Steine offengelegt, die vor der Quay-Mauer liegen. Die Mauer selbst war geborsten, so stark schlagen hier bei Flut gelegentlich die Wellen ans Land.

Der Strand wurde „schmutziger“, weil viele Algen herumlagen. Ich suchte den besten Ausgang zur Straße hin und fand eine Ideallinie, die offenbar auch von den meisten anderen benutzt wurde. Denn als ich eine Sitzgelegenheit suchte, auf der ich meine Füße säubern, Socken und Schuhe anziehen konnte, entdeckte ich einen großen Stein, der die optimale Höhe und eine bequeme Sitzmulde hatte, die über die Jahre und Jahrzehnte hineingesessen worden war.

Das sind eben diese Kleinigkeiten, von denen ich schon einmal sprach, die einen Tag hier perfekt machen und die für Brasilien so typisch sind, wenn man mit offenen Sinnen unterwegs ist.

Ich habe aber schon zweimal Pech gehabt. Vorgestern am frühen Abend ist der Hinterreifen meines Mountainbikes geplatzt, weil sich ein kleines Steinchen reingebohrt hatte.

Das war ich selbst schuld. Denn ich hatte die Reifen für die Strandfahrt an der Tankstelle im Zentrum extra hart aufpumpen lassen. Danach hätte ich wieder Luft ablassen müssen, damit die Räder auf dem harten Untergrund elastischer sind. So platzte der Reifen mit einem lauten Knall. (Mein Nachbar wird mich mit seinem Geländewagen mit Ladefläche ins Zentrum zum Fahrradladen fahren.)

Gestern am Strand passierte das zweite Missgeschick. Ich ließ mich in der Ebbe davon täuschen, dass nur wenige Meter entfernt die Leute bis zum Bauch im Wasser standen, nahm Anlauf und sprang kopfüber ins Meer. Die Wellen zogen sich aber so schnell wieder zurück, dass ich plötzlich in flacheres Wasser sprang und mir den ganzen vorderen Haaransatz über der Stirn abschürfte. Aua.

Ich spürte gleich, dass ich mich verletzt hatte. Musste mich erstmal selbst von dem Schreck erholen.

Die Frauen in der Nähe schauten mich erschrocken an und wiesen mich darauf hin, dass ich stark bluten würde. Kinder und andere Badegäste näherten sich und schauten mich besorgt an.

Ich winkte ab. Das sehe schlimmer aus als es sei. Nur geschürft. Aber es brannte.

Ich tauchte meinen Kopf mehrmals unter Wasser, um die Wunde zu reinigen und gewissermaßen zu desinfizieren. An der Luft würden die Salzkristalle aus dem Wasser die Wunde schnell austrocknen. Am Strand boten mir die Leute Eiswürfel und Küchenpapier an.

Als ich später wieder zu Hause war, versorgte ich die Wunde weiter. Malú hatte Desinfektionspray parat. Auch hier war ich’s absolut selber Schuld. Die Einheimischen warnten, man dürfe das Meer nicht unterschätzen. Hier und da seinen sogar Felsen unter Wasser versteckt. Erst kürzlich habe sich ein ausländischer Tourist auf diese Weise den Kopf aufgeschlagen. Er hat nicht überlebt.

Aber ich bin hier gut beschützt. In Brasilien sind sofort Leute zur Stelle, die helfen und zupacken. Die Menschen sind sehr aufmerksam.

Wenn ich nachts oder abends die 300 Meter von meiner Wohnung zu Malús Haus laufe, das am Rande der Wildnis liegt, weiß ich mich von ihren drei Hunden beschützt.

Sie hören genau, was sich in der Umgebung tut und ob Gefahr droht. Sie kommen mir entgegen oder liegen entspannt in irgendeiner Ecke, weil sie wissen, dass alles in Ordnung ist.

Ich liebe die Hunde hier. Sie sind so wach, so treu, so aufmerksam. Und für sie ist diese Umgebung ebenfalls ein Paradies.

Gestern vier Hunde am Strand gesehen, die gemeinsam und ganz auf sich gestellt den Strand entlang gelaufen sind. Glücklich, neugierig, geschwind. Losgelöst. Frei.

Ein Mensch hing an einem Fallschirm, der von einem Motorboot in die Höhe gezogen wird und hatte den ultimativen Blick auf das Treiben da unten.

In Stadtnähe steigen die Flugzeuge vom benachbarten Flughafen über die Küste in den Himmel auf und ziehen einen breiten Bogen an der Küstenlinie entlang.

Was für ein Abschied. Was für eine Trauer, einen solch schönen Platz hinter sich zu lassen.

Ich mag es mir selbst gar nicht vorstellen.

Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Auf der Ilha dos Aquarios

 

4 Gedanken zu „In Paradise“

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