Gottes Stellvertreter auf Erden: Júlio César

Da werden sich sogar viele Italiener, zumal die vielen, die in Brasilien leben, gefreut haben: Brasiliens Torhüter Júlio César hat der Seleção den Weg ins Viertelfinale gesichert. In einem an Spannung kaum zu überbietenden Elfmeter-Finish parierte der Namensvetter des römischen Kaisers zwei Schüsse der chilenischen Krieger.

Der Sieg hing an einem seidenen Faden.

In der ersten Halbzeit waren die einzigen beiden Tore des gesamten Spiels gefallen. David Luiz brachte in der 18. Minute Brasilien durch gutes Teamwork in Führung. Alexis Sanchez nutzte mangelnde Konzentration und Nachlässigkeiten in der brasilianischen Mannschaft zwölf Minuten später zum Ausgleich.

Die Brasilianer hatten eine Schrecksekunde und rissen sich wieder zusammen.

Die zweite Halbzeit bestand vor allem aus Abwarten und Taktieren. Keine der beiden Mannschaften wollte ins Risiko gehen und durch eine am Ende eventuell misslungene Attacke dem Gegner eine offene Flanke für einen Konter bieten.

So ging es in die Verlängerung, in der aber auch nicht viel passierte, außer dass beide Mannschaften dabei viele Kräfte verloren.

In der 108. Minute muss Verteidiger Gary MEDEL vom Platz getragen werden, weil er einfach nicht mehr kann. José Rojas kommt für ihn rein.

Beide Mannschaften versuchen, so weit die Kräfte es noch zulassen, etwas Gas zu geben.

Kurz vor Abpfiff der Verlängerung hämmert der Chilene Pinilla den Ball fast noch ins Tor, scheitert aber nur sehr knapp an der Latte.

Das wär’s gewesen gewesen. Brasilien hätte vor vollem Haus und überwiegend heimischen Publikum im legendären Mineirão-Stadion von Belo Horizonte, der Hauptstadt der stolzen Mineiros, verloren.

Aber das konnte hier, an diesem Ort, nicht geschehen. Belo Horizonte (Schöner Horizont) und der Bundesstaat Minas Gerais ist ein Kraftort. Geschichtsträchtig, gewaltig, wirtschaftlich stark, reich, revolutionär.

Auch der millionenfach angeflehte Herrgott hatte wohl ein Einsehen und beließ es beim Unentschieden.

So ging es ins Elfmeterschießen.

Brasiliens Torhüter Júlio César wurde von Gefühlen übermannt und konnte die Tränen nicht aufhalten.

Doch seine Mannschaftskameraden sprachen ihm Mut und Kraft zu, allen voran Brasiliens Wunderstürmer Neymar, der in kurzer Zeit eine sichtbare Reifung zum Erwachsensein vollzogen hat. In Brasilien bislang vor allem ein Teeniestar mit merkwürdigen modischen Eskapaden, scheint er jetzt zum Manne gereift.

Diese seine neue Qualität sollte er auch bald unter Beweis stellen.

Die beiden Torhüter gingen in Begleitung des souveränen britischen Schiedsrichters Howard Webb Richtung Tor. Júlio César hatte sich wieder gefasst und strahlte nun Entschlossenheit aus.

Brasilien hatte den ersten Schuss und David Luiz verwandelte sicher.

Nun war es an Pinilla, nachzuziehen. Doch der Mann, der kurz vor Ende der Nachspielzeit fast das vorzeitige Siegtor erzielt hätte, scheiterte an dem sensationell parierenden Júlio César.

Nun war Willian für Brasilien dran. Doch er verfehlte das Tor. Brasiliens Vorteil war durch eigenes Verschulden wieder nivelliert. (Ich wage die Prognose: Willian wird für Brasilien keine Elfmeter mehr schießen, wenn er überhaupt noch aufgestellt wird…)

Nun lag es wieder in der Hand Gottes und seines Stellvertreters auf Erden, Júlio César, ob Brasilien sich aus diesem selbst verschuldeten Sumpf wieder herausziehen würde.

Alexis schoss für Chile. Doch Julius Caesar war größer und mächtiger. Und hielt seinen Kasten sauber und jungfräulich!

Nun war der lustige Lockenkopf Marcelo dran. Dass der Tore schießen kann, wissen wir alle spätesten seit seinem Eigentor im Eröffnungsspiel. Diese Fehlleistung hat er seitdem aber eh wieder gut gemacht. So konnte er unbelastet und entspannt vor das Tor treten und verwandelte sicher.

Nun war Chile dran und Aranguiz schoss so gut, dass selbst ein Julius Caesar an seine Grenzen gelangt.

Nun war es an Hulk, bürgerlich Givanildo Vieira de Souza. Den Spitznamen trägt er, weil er so massiv und bullig ist wie Der unglaubliche Hulk. Die Brasilianer sprechen fremdsprachige Wörter und Namen aber immer gerne brasilianisch aus, das klingt dann nach Úkki, Úiki).

Ich mag seinen rustikalen Stil. In Brasilien wird er vor allem von Frauen wegen seines imposanten Hinterns bewundert. Wie ein bulliger Stier.

Ihm waren im Spiel schon einige dumme Patzer untergekommen, was sonst eigentlich nicht sein Stil ist. War irgendwie nicht sein Tag. Und so passierte, was man ihm noch am Wenigsten zugetraut hätte: Er schoss zu schlapp und flach. So kam auch Chiles Bravo zu einem gehaltenen Elfmeter.

Nun ist Chiles Diaz dran. Wird er verschießen oder an Caesar scheitern? Nein. Der Ball ist sicher drin.

Nun ist der letzte Hoffnungsträger für Brasilien dran: Neymar! Der Super-Star. Von dem alle reden. Ohne den bei Brasilien nichts zu gehen scheint.

Neymar war bei aller ballzauberischen Begabung bisher trotzdem immer noch ein Luftikus. Oft genial und außerordentlich, manchmal aber auch schwach und schlecht. Noch zu unstet und unzuverlässig. Er ist ja auch erst 22!

Doch schon in den Gruppenspielen war zu merken, wie sehr Neymar bei allem Starkult auch Mannschaftsspieler ist und wie wohl er sich auf heimischen Boden fühlt nach einem schwierigen ersten Jahr beim FC Barcelona.

Als die Kamera vor dem fünften brasiliansichen Elfmeter nah auf das Gesicht von Neymar hielt, sah man einen Mann. Mit klarem, entschlossenen Gesicht.

Er hätte in diesem Moment Zweifel haben können. So viel wird über ihn geredet und gesprochen, im Guten wie im Schlechten. Wenn er nun versagen würde, wie schnell würde sein Stern dann sinken? Er wäre für den Rest des Lebens derjenige, der Brasiliens Traum von der Sechsten Weltmeisterschaft vermasselt hat!

Doch nichts dergleichen kommt ihm in den Sinn. Neymar ist voll fokussiert. Konzentriert sich auf Ball und Torwart. Läuft an, stockt kurz, läuft wieder und schießt. GOOOOOOOOOOOOOOLLL!!!!

Brasilien führt mit 3:2.

Jetzt ist es an Jara, mit einem Ausgleichstor das Elfmeterschießen weiter in die Länge zu ziehen. Dem Herrgott sozusagen noch eine Verlängerung abzuringen.

Doch er selbst scheitert an der Aufgabe. Trifft nur den rechten Pfosten.

Brasilien hat gewonnen! Brasilien ist weiter!

Und trifft im Viertelfinale auf Kolumbien. Dank seines Supertalentes James hat Kolumbien in Rio de Janeiro Uruguay mit 2:0 in der regulären Spielzeit besiegt. Uruguay hatte ohne sein seit dem Italienspiel gesperrtes Beiss-Monster Suárez keine Chance.

Schade. Die WM ist damit um eine Attraktion ärmer.

P.S.: Ich habe das Spiel zusammen mit Familie, Freunden und vielen anderen im Haus der Kulturen der Welt in Berlin verfolgt. Ein Team von N24 drehte vor Ort und verwertete einige der dort gedrehten Bilder. Eine brasilianische Freundin wurde mit einem O-TON eingebaut. Hier ist der Link zum N24-Beitrag.

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4 Gedanken zu „Gottes Stellvertreter auf Erden: Júlio César“

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