Gedanken zum 29. Tag der Deutschen Einheit

Heute vor 29 Jahren trat die DDR der BRD bei – aus Nachkriegs-Klassenfeinden (sozialistisch-kapitalistisch) wurde mit einem Schlag wieder eine Nation, ein Volk mit einer gemeinsamen Regierung. Ich habe diese Wendezeit sehr intensiv und aus nächster Nähe erlebt, da die Familien meiner beiden Elternteile zwischen Ost und West getrennt waren und wir vor wie nach der Wende einen starken familiären Austausch pflegten. In den Sonntagsreden zum heutigen Nationalfeiertag werden wieder einmal das Glück der Stunde und das „Geschenk“ der Einheit gepriesen – und die Probleme zwar angesprochenen, aber eher kleingeredet. Ja, man darf sich freuen. Aber die Augen vor den realen Konflikten zu verschließen, führt auch nicht weiter. Eine persönliche Bestandsaufnahme.

Mein Vater und meine Mutter stammen beide aus dem thüringischen Eichsfeld, einer selbst zu DDR-Zeiten erzkatholischen Enklave im Grenzgebiet zur BRD. Beide siedelten als Twens vor dem Mauerbau im Jahr 1961 in die BRD über und wurden in der westdeutschesten aller westdeutschen Großstädte heimisch: in Köln am Rhein, wo sowohl meine drei Jahre ältere Schwester als auch ich geboren wurden.

Mein Vater hatte nur eine ältere Schwester, die mit Mann und drei Kindern in der DDR geblieben war und den gemeinsamen Vater pflegte. Meine Mutter hatte dagegen noch sieben weitere Geschwister. Die eine Hälfte lebte in der BRD, die andere in der DDR. Trotz der baldigen Scheidung meiner Eltern und dem dann alleinigen Sorgerecht meines Vaters ist es vor allem meiner Mutter zu verdanken, dass meine Schwester und ich über all die Jahre einen engen Kontakt zur schier unüberschaubar großen Familie meiner Mutter hatten. Vor allem die Weihnachtstage und den Jahreswechsel verbrachten wir regelmäßig im Kreis der versammelten Familie mütterlicherseits in der DDR – zwangsläufig in der DDR, weil die anderen schließlich nicht die Freiheit besaßen, in die BRD zu Besuch kommen zu können, es sei denn, man lag dem Arbeiter- und Bauernstaat als Rentner oder Behinderter oder sonst wie auf der Tasche. Dann bekam man selbstverständlich und recht unbürokratisch die (Aus-)Reisegenehmigung.

Das Leben in der DDR – Es reichte zum Leben

Den Familienmitgliedern im Osten ging es nicht schlecht. Zwar hatten alle unter der generellen Mangelwirtschaft zu leiden, weil es vieles einfach nicht gab oder wenn ja, dann nur sehr selten oder in geringer Stückzahl. Aber sie alle hatten sich mal mehr, mal weniger freiwillig mit dem herrschenden System und den Lebensumständen arrangiert und ihren jeweiligen Platz gefunden und eingenommen. Dank der West-Verwandtschaft kam man ja auch  mindestens zu Weihnachten oder Geburtstagen in den Genuss von Westpaketen, in denen sich all die Leckereien und Textilien und sonstigen Produkte befanden, welche man nur aus dem frei empfangbaren Westfernsehen kannte (lediglich den extremeren Osten und Süden der DDR konnten die starken Westantennen nicht abdecken – hier lebte „Der Dumme Rest“, wie die an Witz nicht armen Ossis selbstironisch eingestanden).

Mein persönlich engster Kontakt war der jüngste Bruder meiner Mutter, der verhältnismäßig ungebunden im Prenzlauer Berg in Ost-Berlin lebte und die damalige ostdeutsche Jugendkultur liebte: Rockkonzerte, Reisen im Trabbi und mit Zelt in alle verfügbaren Natur-Refugien wie Ostsee oder Mecklenburger Seenplatte, gelegentliche Konflikte mit der spießigen und überwachungsversessenen Staats(Stasi)macht, aber nicht zuviel, um nicht wirklich als politischer Häftling in Hohenschönhausen oder Bautzen zu landen.

Wir verstanden uns prächtig, wie Brüder. Und da der Besitz eines eigenen, festen Telefonanschlusses ein Privileg der Wichtigen und/oder Angepassten war, blieb nur die Post als Kommunikationsweg. Wir schrieben uns fleißig Briefe und tauschten uns über alles aus, was der jeweilige Alltag so mit sich brachte, auch über Politik und Wirtschaft. Natürlich war uns klar, dass die Stasi ein Auge auf jegliche deutsch-deutsche Korrespondenz hatte, sicher auch unsere. Auch Telefonanrufe geschahen immer in dem Wissen, dass das Telefonat wahrscheinlich abgehört wurde oder zumindest werden konnte. Mein Onkel machte aber keinen großen Hehl daraus, dass er die DDR ziemlich Scheiße fand, eben weil das System so spießig und engstirnig und ideologisch und unfrei war. Er wollte frei sein, reisen dürfen wie ich und alle Bücher und Platten kaufen dürfen, die wir im Westen hatten. Freiheit! Das war es, was ihm am meisten in der DDR fehlte, auch wenn Ost-Berlin im Vergleich zum Rest der Republik freier, anonymer, aufregender und vielseitiger war als der Rest der DDR. Ansonsten kam er als angestellter MTA gut über die Runden, musste sich um Arbeit, Wohnen und Ernährung keine existenziellen Sorgen machen. Der Staat regelte das schon. Irgendwie. Irgendwann.

Über all die Jahre, die ich regelmäßig als Schüler und schließlich Student die DDR besuchte, war aber ein zwar schleichender, aber doch steter ökonomischer Niedergang zu verzeichnen. Die DDR befand sich zunehmend in ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Versorgungsprobleme selbst simpelster Basisprodukte wurden immer bedenklicher und existenzieller. Westdeutsche Politiker nutzten diese zunehmende Schwäche der DDR geschickt, um der DDR-Regierung mittels Milliardenhilfen politische Zugeständnisse abzutrotzen und so die Reisebeschränkungen zunehmend aufzulockern.

In der Schlussphase der DDR war es bereits allen Ost-Geschwistern meiner Mutter möglich, ihren 50. Geburtstag mit ihr in Westdeutschland zu feiern! Das war im April 1989 – und an ein Ende der Teilung und einen plötzlichen Mauerfall war trotzdem nicht im Geringsten zu denken.

Zwar gehörte der Wunsch nach der Überwindung der Teilung zum Standardrepertoire einer jeden Sonntagsrede westdeutscher Politiker, aber die Teilung war in den westdeutschen Köpfen inzwischen so weit fortgeschritten, dass ich mich in meinem großen westdeutschen Bekanntenkreis an niemanden erinnere, dem die Wiedervereinigung ein wirkliches persönliches Anliegen gewesen wäre, sofern er/sie nicht unmittelbar Verwandtschaft dort besaß wie ich.

Die DDR wurde in meiner in den späten Sechzigern geborenen Generation bereits als Tatsache akzeptiert. Der Osten Europas weckte generell wenig Interesse bei den westdeutschen Reiseweltmeistern: viel zu hässlich, unfrei, rückständig, primitiv, viel zu kompliziert und aufwändig und bürokratisch. Der Osten dürfte in der Vorstellung der meisten Menschen im Westen damals eher einer Art finsterem Armenhaus geglichen haben, wo die Unfreien und Zurückgebliebenen lebten, welche die Arschkarte im Nachkriegseuropa gezogen hatten, während man selbst auf der richtigen Seite der Mauer stand, wo Freiheit und Demokratie herrschten.

Man darf bei all diesen Jubelbildern, die anlässlich der Jahrestage immer und immer wieder gezeigt werden, nicht vergessen, dass sich der Jubel der Wessis über die plötzliche Invasion aus dem Osten daher ziemlich in Grenzen hielt, von der ersten, überwältigenden Euphorie abgesehen.

Und dass Helmut Kohl ein solches Tempo an den Tag legte, um die historische Chance zu ergreifen, die DDR schlagartig der BRD einzuverleiben, hat auch nicht wirklich jedem gefallen. Der wohl prominenteste Gegner war der damalige SPD-Shootingstar Oscar Lafontaine . Doch seine nüchtern-analytische Kritik entsprach nicht dem damaligen publizierten Mainstream, glich geradezu einer Majestätsbeleidigung! Wie konnte er sich erdreisten, diese „historische Chance“ als Irrweg zu bezeichnen!!

Die deutsche und europäische Nachkriegsgeschichte hatte schließlich offensichtlich und definitiv einen Wendepunkt erreicht, der zugunsten des US-dominierten, kapitalistischen und wohlfahrtstaatlichen Westblocks auszugehen begann und das vermeintlich festzementierte „kommunistische“ System der Planwirtschaft nach allen Lehren der Kunst zerlegte und überwand!

Die DDR war in Grund und Boden gescheitert. Und nur ein paar verspinnerte Träumer konnten tatsächlich glauben, dass es noch ein anderes Deutschland jenseits des bundesrepublikanischen geben könnte. Rückblickend hat die Geschichte gezeigt, dass der ganze ehemalige Ostblock von einer Welle der Freiheit – sowohl wirtschaftlich wie politisch – ergriffen wurde und alle dem westlichen Beispiel der Marktwirtschaft und Parteiendemokratie folgten.

Das westliche System hatte gesiegt. Keine Frage. Nun ging es nur noch darum, wie man damit umging und wie man die Zukunft von jetzt an gestalten würde.

Es lag auf der Hand, dass sich für den Westen möglichst wenig ändern sollte. Die Wessis hatten wenig Interesse daran, ihren Wohlstand auf einen Schlag mit einer um ein Drittel gewachsenen, ebenfalls deutschen Bevölkerung zu teilen. Für die Wessis sollte sich die Wiedervereinigung möglichst schmerzfrei vollenden und der einfachste Weg war, das bewährte Westsystem einfach dem neu hinzugewonnen Gebiet überzustülpen.

Der Solidarzuschlag war ein Tribut, den die Bevölkerung für einen absehbaren Zeitraum zu zahlen bereit war, wenn man damit diesen unterentwickelten Osten irgendwie auf Vordermann bringen konnte, ohne dass einem die dortige Bevölkerung zu sehr auf’s Dach steigen würde.

Die Bundesrepublik konnte es sich leisten. Sie war schon damals eine Weltwirtschaftsmacht, die niemand ignorieren konnte. Die Wirtschaft hatte mit einem Schlag einen erheblich gewachsenen, nahe gelegenen Absatzmarkt und fand in den heruntergewirtschafteten Ostblock-Staaten erheblich günstigere Investitionsmöglichkeiten. Das war eine Art Wild-West-Zeit!! Nur dass der Wilde Westen nun im Osten stattfand!

Der Osten erlebte eine Wirtschafts-Invasion aus dem Westen, die seinesgleichen suchte! Ein Eldorado für jeden, der nach günstigeren Gelegenheiten suchte, das schnelle Geld zu machen. Und das ist nunmal die Triebfeder des Kapitalismus.

Für die betroffenen Bürger der ehemaligen Ostblockstaaten war das natürlich eine gewaltige Veränderung. Und wie das bei solchen tektonischen Verschiebungen nunmal passiert, sind viele dabei unter die Räder gekommen, haben die Kurve nicht gekriegt, sind aus der Achterbahn geschleudert worden.

Andere haben es mehr oder weniger mühelos geschafft, sich an die veränderten Umstände bestmöglich anzupassen.

Und so gesehen ist in den vergangenen 30 Jahren wirklich ungeheuer viel erreicht worden!

Die Lebensqualität in Ost und West hat sich einander angeglichen. Der Osten ist in vieler Hinsicht neu erblüht. Und der Westen hat freilich unterm Strich auch dafür bezahlt, nicht nur mittels Transfergeldern. Viele Arbeitnehmer verloren ihre Jobs, weil im Osten billiger produziert werden konnte. Die Bundesrepublik hat über Jahrzehnte nicht unerhebliche Teile der Ostbevölkerung mit diversen Wohlfahrtsprogrammen durchgefüttert, Städte restauriert, die Infrastruktur modernisiert.

Es ist also nicht alles schlecht. Und genauso gibt es vieles, was für den einen oder anderen ziemlich schief lief.

Doch die Wende war nicht aufzuhalten. Sie brach wie eine Springflut über die Menschen herein, trug viele fort und spülte gleichzeitig viele andere an neue und bessere Ufer.

Wenn Ossis in Ostalgie verfallen, sollten sie sich stets in Erinnerung führen, dass die DDR genauso wie der gesamte Ostblock nicht überlebensfähig war.

Sie wäre es auch nicht gewesen, wenn es die westlich-kapitalistisch-imperialistische Welt nicht als Gegenstück dazu gegeben hätte. Das Ergebnis wäre noch trostloser geworden.

Kapitalismus als Triebfeder für den wirtschaftlichen, technologischen  und damit auch gesellschaftlichen Fortschritt wird es immer geben.

Das heißt aber nicht, dass er deswegen völlig zügellos agieren sollte und dürfte.

Dem Kapitalismus müssen Grenzen gesetzt werden. Er braucht ein soziales, empathisches Gesicht und eine gesellschaftliche Verantwortung, um der Allgemeinheit langfristig zu dienen und von ihr akzeptiert zu werden.

Und er erfährt zwangsläufig dort seine ultimative Grenze, wo er die Lebensgrundlage der Menschheit und allen Lebens auf unserem Planeten zerstört.

Freiheit setzt Verantwortungsbewusstsein voraus. Die Freiheit findet dort ihre Grenzen, wo sie die Freiheit der anderen verletzt.

Diese Grenzen immer wieder auf’s Neue zu ziehen und zu identifizieren, ist eine nie endende und die eigentliche Herausforderung.

Aber die ist zu meistern, wenn man sachlich, ehrlich, selbstkritisch, pragmatisch und eben verantwortungsbewusst an die Dinge herangeht.

Es gibt kein Problem, für das sich keine Lösung finden ließe.

Wenn man die Probleme allerdings lange vor sich herschiebt, dann kann die Lösung mitunter sehr schmerzhaft und radikal werden, weil keine Zeit mehr bleibt, die vielen aufgetürmten Verwerfungen Stück für Stück abzuarbeiten. Dann kommt es eben wieder zu einem Erdbeben, zu einer Springflut, zu einem Tsunami, der mit einem Schlag die Dinge aus den Fugen geraten lässt, um Raum für eine neue (Welt-)Ordnung zu schaffen.

Veränderung lässt sich nicht aufhalten. Veränderung ist der atomare Bestandteil dessen, was Leben überhaupt ausmacht. Die Welt verändert sich am laufenden Band und den Lebewesen bleibt nichts anderes übrig, als sich ständig den laufenden Veränderungen anzupassen, sie zu antizipieren oder bestmöglichst zu den eigenen Gunsten zu steuern und zu lenken. Dazu bedarf es eines möglichst realistischen, nüchternen Weltwissens.

Wenn man die Dinge realistisch und sachgerecht einschätzt, dann fällt es auch leichter, sich an Veränderungen anzupassen.

Nur eines lässt sich nicht verändern: Das Naturgesetz. Die Physik. Die Chemie. Die Biologie.

Sie sind (zumindest in unserem uns bekannten Universum) unveränderlich, gnadenlos und rücksichtslos. Im wahrsten Sinne des Wortes gleichgültig.

Respektiert die Naturgesetze. Dann werden sie euch auch respektieren.

 

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