Brief aus Brasilien – Der neue Nationalismus und seine Schreihälse

Buchcover Highlights Brasilien

Je länger ich in Brasilien bin (seit dem 12. Dezember 2016), desto fremder wirken all diese Sorgen, Debatten und Diskussionen, die in Deutschland und anderswo geführt werden, auf mich. Björn Höcke, AfD, Flüchtlinge, Merkel, Terroranschlag, Trump, Brexit etc. – die Medien, die Menschen auf Facebook, Twitter und Co. befinden sich offenbar in einem Dauererregungszustand. In dem befinde ich mich auch, aber der ist eher auf die Attraktivität mancher brasilianischer Frauen zurückzuführen…(hahaha)

Das macht alles schon einen ziemlich überhitzten bis hysterischen Eindruck. Man könnte meinen, das Vierte Reich stehe bevor, ein neuer Weltkrieg drohe.

Viele Leute in Europa und den USA drehen echt am Rad. Sie haben Kopf und Verstand verloren, weil ihnen das Flüchtlingsdrama und die Migrationsbewegungen Angst machen. Vermeintliche Nationalpatrioten scheuen überhaupt nicht mehr das Licht der Öffentlichkeit, auch wenn sie sich allen kritischen Fragen gegenüber taub stellen. Sie wollen die Bühne nur, um das Volk aufzupeitschen, zu polarisieren, zu radikalisieren. Sie fordern radikale Lösungen für die gegenwärtigen Probleme und setzen sich dabei über Grundprinzipien der freiheitlichen, demokratischen Ordnung hinweg. Sie glauben, nur weil sie Deutsche ohne (bekannten, bewussten) Migrationshintergrund sind, irgendwelche besonderen Rechte für sich reklamieren zu können. Moslems seien grundsätzlich eine Gefahr, eine friedliche Auseinandersetzung mit ihnen nicht möglich.

Und da diese Leute sich gerne als Marktschreier aufführen, könnte man den Eindruck gewinnen, sie seien in der Mehrheit, während der Rest schweige.

Zum Glück ist nicht 1933. Wir haben 2017. Die Welt hat sich seitdem quantensprungmäßig weiterentwickelt zu einer globalisierten Hochtechnologiewelt.

Die Globalisierung ist das Grundthema unserer Zeit. Und von dort rührt auch das grundsätzliche Unbehagen, die Unzufriedenheit, die Angst, die Sorgen.

Ich mache niemandem einen Vorwurf, der sich Sorgen macht. Die darf man sich machen. Aber deswegen sollte man nicht gleich seinen Kopf verlieren oder in den Sand stecken. Sondern versuchen, kühl und cool zu bleiben, zu analysieren, zu beraten und dann besonnen, aber entschieden zu handeln.

Merkel war noch nie eine Macherin und sie wird es auch nicht mehr werden. Das ist ihr größtes Problem. Aber immerhin ist sie in diesen unruhigen Zeiten so etwas wie ein Stabilitätsanker, ein Pfeiler im Weltgefüge.

Es braucht Leute wie sie. Wenn nicht als Kanzlerin, wird sie anderweitig (UN?) Perspektiven haben. Ihre langjährige Erfahrung, ihre langjährigen Kontakte sind einfach Gold wert.

So ein kleiner Pisser wie der Höcke (bewusst nicht verlinkt) ist da nicht einmal eine Fußnote in der Geschichte. Einer von diesen Schreihälsen halt.

Die hab ich in meinen Klassen an der Grundschule auch immer gehabt. In jeder Klasse gibt es die, mal mehr, mal weniger. Sie stören permanent den Unterricht, drängen sich ständig in den Vordergrund. Dabei haben sie überhaupt nichts zu bieten! Sie können nichts. Null. Nur zerstören. Nerven. Die Klassenmehrheit erduldet das Leid, nur wenige trauen sich, Widerstand zu leisten.

Dabei wäre es so einfach, wenn die Klassenmehrheit mich als Lehrer dabei unterstützen würde, mit diesen Schreihälsen fertig zu werden. Es bräuchte einen Schulknast, in den man die Bengel (es sind meistens Jungs) einfach wegsperren könnte, wenn sonst keine Maßnahme mehr hilft. Die meiste Zeit des Unterrichts geht ihretwegen mit Disziplinarmaßnahmen um. Das ist anstrengend, nervt, und geht auf Kosten der Allgemeinheit.

Schule ist nur ein Mikrokosmos der Gesellschaft, weswegen ich die Arbeit gerade an einer Neuköllner Brennpunktschule besonders aufschlussreich und interessant fand.

Und eines kann ich schonmal vorweg sagen: auch wenn über 95% der Schüler und Schülerinnen moslemischen Glaubens waren und das spezifische Problemstellungen und Hintergründe mit sich bringt, ist die pädagogische Arbeit dort nicht anders als mit anderen Kindern . Kinder aus sozial starken Milieus sind nicht unbedingt leichter zu handhaben. Bei ihnen hat der unlimitierte Umgang mit iPad, Smartphone und Computerspielen zu erheblichen Verhaltens- und Konzentrationsstörungen geführt. Und ihre karriereorientierten Eltern sind ebenfalls sehr anstrengend mit ihren übersteigerten Ansprüchen.

Die einen sind verwöhnt, die anderen sind vernachlässigt, die einen sind fleißig, die anderen faul, die einen schlau, die anderen dumm. Das ist überall dasselbe, egal ob Moslem, Christ, Atheist, reich oder arm.

Natürlich ergeben sich aus der Religionszugehörigkeit spezifische Herausforderungen. Der weltanschauliche Hintergrund hat immer einen Einfluß auf die Erziehung der Kinder. Er prägt ja auch ihren familiären Alltag. Darauf muss man als Pädagoge eingehen. Das muss man thematisieren, sowohl passiv wie aktiv.

Und wie in jeder anderen Religion auch, gibt es auch bei den Moslems gemäßigte und radikale Ansichten.

In den Medien werden vor allem die radikalen Absichten thematisiert. Das haben Medien so an sich. Man berichtet eben über das Nicht-Alltägliche, Besondere, sonst wäre es ja langweilig und keiner Rede wert. Das machen Menschen untereinander ja auch nicht anders.

Daraus entsteht dann der falsche Eindruck, die Welt werde nur noch von Verrückten beherrscht und alle drehten durch.

Tatsache ist aber, dass es sich bei den Verrückten um Ausnahmen handelt. Die Masse ist nicht verrückt, sondern mit den Sorgen des Alltags und der Existenzsicherung genug beschäftigt, als sich um solche Dinge zu kümmern. Wer hat schon Zeit dafür, außer den Politikern und Journalisten, deren Profession es ist, sich damit zu beschäftigen.

Also gemach, gemach. Lasst die Schreihälse schreien, bis ihnen die Stimme vergeht. Gleichgültigkeit ist das beste Mittel, solchen Menschen zu begegnen. Sie ausgrenzen, aber ihnen auch die Perspektive geben, in die Gemeinschaft wieder aufgenommen zu werden, wenn sie aufhören, ständig zu stören.

Was muss der arme Höcke für eine  Frust mit sich rumtragen, dass er wegen der Flüchtlingskrise so aus der Fassung gerät. Eigentlich muss man eher Mitleid haben. Was ist schief gelaufen im Leben dieses Mannes? Vielleicht kann ihm ja jemand helfen. Mit Sicherheit. Ein paar intensive Gespräche mit einem guten Psychologen sollten sich lohnen. Oder schickt ihm eine attraktive Professionelle vorbei, die dem kleinen Höcke all die Aufmerksamkeit gibt, die ihm sonst zu fehlen scheint…

Und wenn nicht, ist auch egal. Man muss diesen Typen ja nicht wählen. Von einer Machtergreifung ist die AfD meilenweit entfernt und dafür auch in ihren Reihen viel zu ungeschlossen.

Die AfD – die ich zur Eurokrisen-Zeit sogar positiv sah – ist ein Sammelbecken der Unzufriedenen, Zurückgebliebenen, Frustrierten, Abgehängten, Überkandidelten. Es hat hier und da auch kluge Köpfe. Das ist das Hauptproblem der AfD, dass die Schreihälse dort die Überhand gewonnen haben. Aber auch das wird sich irgendwann einpendeln. So ist das in jeder neuen Partei, wenn sie nicht vorher an den parteiinternen Streitereien zugrunde gegangen ist wie die PIRATEN.

Mehrheiten zu organisieren ist kein Kinderspiel. Das ist echt harte Arbeit. Dafür muss man geboren sein, sonst verliert man schnell die Geduld. Sich hinzustellen und allen zu sagen, in welche Richtung sie laufen sollen, ohne dass dabei heilloses Chaos entsteht, muss man erstmal hinkriegen. Das ist schon mit einer Schulklasse kein Kinderspiel. Mit berufstätigen, verantwortungsbewussten Erwachsenen ist das schon etwas anderes. Aber dafür muss ja erst einmal Konsens herrschen über die Richtung. Dafür gibt es genug kritische Menschen, die sich nicht einfach rumkommandieren lassen.

Tatsache ist aber auch, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Das ist das einzig Mutmachende an der bevorstehenden Trump-Präsidentschaft, dass dieser Schreihals den ganzen Laden etwas in Aufruhr versetzt und daraus am Ende vielleicht wirklich neue Ansätze erwachsen.

Die Globalisierung hat viele Probleme mit sich gebracht: Verlagerung von Arbeitsplätzen, Umweltverschmutzung, globale Migrationsbewegungen. Und das Gefühl, ihr wehrlos ausgesetzt zu sein, während die Großkonzerne und ihre Manager und Eigentümer in Geld baden.

Wir hier unten müssen kämpfen und kämpfen, während die da oben mit goldenen Löffeln essen.

Der populistische Nationalismus ist daher aus meiner Sicht nur übersteigerter Ausdruck eines Trends zurück zum Lokalen. Weg von dieser Globalwirtschaft, die sich längst verselbständigt hat und selbst erfahrene Politiker und Wirtschaftsexperten vor unlösbare, komplexe Probleme stellt.

Nun gut, das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, ist auch gar nicht wünschenswert. Unsere Epoche hat ja auch viele technologische Errungenschaften gebracht, die das Leben spannender und abwechslungsreicher machen.

Oberstes Prinzip politischen, wirtschaftlichen und sozialen Handelns muss die Nachhaltigkeit sein. Der Schutz des Lebens und des Planeten. Außenpolitisch muss das Ziel sein, im Frieden mit den Nachbarn zu leben und zu helfen, die Lebensbedingungen zu verbessern, wo nötig.

Dem hat sich alles unterzuordnen. Die Welt muss mal einen Gang runterschalten, mindestens. Wenn nicht zwei. Es geht allen besser, wenn man sich vor allem um die jeweiligen Lebensbedingungen vor Ort kümmert, durchaus den Blick wieder mehr nach Innen richtet, ohne den Anderen zu vergessen. Rückbesinnung nicht auf das Nationale, denn dieser Begriff funktioniert in unserer multikulturellen Gesellschaft einfach nicht mehr, er grenzt aus, statt zu integrieren. Sondern Rückbesinnung auf das Lokale.

Was kann ich, was können meine Familie und meine Freunde vor Ort konkret tun, um das Miteinander zu fördern? Wenn jeder das in seinem unmittelbaren Lebensbereich tut, dann ist viel gewonnen, sich vor Ort konkret und persönlich einbringen, als Bürger, als Eltern, als Unternehmer oder was auch immer –

Die offenen Grenzen Europas dürfen auch kein Tabu sein. Zeiten ändern sich. Einst fiel eine Mauer, jetzt werden neue gebaut.

Ob es gleich Mauern sein müssen, bleibt dahingestellt. Aber hier und da wieder Grenzen zu ziehen und Kontrollen einzuführen, stärkt das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung. Ist ja auch effektiv.

In Brasilien gibt es außerhalb der Städte Straßenposten der Verkehrspolizei. Ist Gefahr im Verzug, sind die schnell geschlossen und jedes Auto kann kontrolliert werden. Solche Posten braucht es an den Außen- wie Binnengrenzen. Das ist eine Frage des Selbstschutzes.

Die Polizei in Deutschland muss sich zumindest im Sicherheitsbereich eine neue Grundphilosophie zulegen. Ihr Auftritt muss furchteinflößender werden. Militärischer.

Mit der Militärpolizei in Brasilien ist nicht zu spaßen. Die geht furchtlos rein ins Gewühle und greift hart durch, wenn Unruheherde entstehen. Sie verschafft sich körperlich spürbar Respekt. Natürlich gibt es genügend Beispiele, wo die Polizei diese Macht übertrieben hat und Ungerechtigkeit entsteht. Das muss ebenso rigoros geahndet werden. Aber grundsätzlich brauchen wir in Deutschland Polizeieinheiten, die sich schon qua ihres Auftretens Respekt verschaffen. Der Kuschelkurs mit Konfliktberatern mag bei vielen Demos angemessen sein, anderswo ist er zum Scheitern verurteilt.

Auch diese Debatte muss man ganz pragmatisch und nüchtern, unideologisch führen.

Wie alle anderen Debatten auch. Die Probleme sind viel zu konkret, um sie ideologisch anzugehen. Es braucht praktische Lösungen. Und es braucht die Mitwirkung aller.

Von nichts kommt nichts. Wer sich nicht einbringt, darf auch nichts erwarten. Und wer seine Zeit mit Jammern verschwendet, sollte lieber die Ärmel hochkrempeln und einfach mithelfen, die Probleme anzupacken.

Es gibt grundsätzlich zwei Ansätze, dem Leben, der Welt und ihren Herausforderungen zu begegnen: Konstruktiv oder Destruktiv.

Konstruktiv zu handeln ist weit befriedigender als einfach nur kaputt zu machen und alles über den Haufen zu werfen.

Es ist so einfach. Einfach machen. Packen wir’s an!

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