Brasiliens Identität im Spiegel seiner Schriftsteller

Am 9. Oktober beginnt die Frankfurter Buchmesse. Im Fokus steht der diesjährige Ehrengast Brasilien. Einen Einblick in die Vielfalt der brasilianischen Literatur gewährt vorab das 13. Internationale Literaturfestival Berlin, das derzeit in der Hauptstadt stattfindet.

Am vergangenen Samstag war der 7. September, Nationalfeiertag in Brasilien. Mit großen Paraden in der Hauptstadt Brasília und weiteren Metropolen wird alljährlich die Unabhängigkeit von der portugiesischen Krone von 1822 zelebriert. Begleitet werden sie dieses Jahr von einer erneuten Protestwelle im ganzen Land, die allerdings nicht die Massen mobilisiert wie im Juni während des Confed Cups.

Während sich in Brasília, Rio de Janeiro, São Paulo und andernorts Polizei und Demonstranten Straßenschlachten liefern und im künftigen WM-Stadion Mané Garrincha die brasilianische Fussball-Nationalmannschaft die australische Auswahl mit 6:0 demontiert, lädt das Literaturfestival sechs Schriftsteller/innen aus Brasilien auf die Große Bühne des Berliner Festspielhauses. Titel der Veranstaltung: Cachaça mit dem Teufel – Eine lange Nacht der brasilianischen Literatur.

Dank der Aufmerksamkeit, die Brasilien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse und Ausrichter der Fussball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro genießt, werden dieses Jahr über 70 Werke brasilianischer AutorInnen auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen. Die Auswahl der Podiumsgäste in Berlin zeugt von der Vielseitigkeit der brasilianischen Produktion.

Moderiert wird der Abend von Wanda Jakob und Michael Kegler, die eng mit der brasilianischen Literaturszene verbunden sind und u.a. als Übersetzer und Herausgeber tätig sind.

Als erstes laden sie den Senior auf die Bühne: Reinaldo Moraes, 1950 in São Paulo geboren, der 1981 mit seinem autobiographischen Roman Tanto faz (Egal) einen Kultroman schuf. Sein jüngstes Werk stammt von 2009 und heisst Pornopopéia. Es handelt von dem ehemaligen Filmregisseur Zeca, der sich mit Werbevideos und billigen Pornos mehr schlecht als recht über Wasser hält und in eine Spirale aus Sex und Gewalt gerät. „Eine Person in Dekonstruktion“, deren Rollen immer mehr auseinanderfallen, erklärt Moraes. Viel mehr will Moraes seinen Roman nicht erklären und interpretieren: Wozu hat er ihn sonst geschrieben? Lesen Sie das Buch, so seine Aufforderung ans Publikum. (Das Werk gibt es aber nach wie vor nicht auf Deutsch.) Er verfolge keine politische Intention, lässt sich Moraes noch entlocken. Weil es den Diskurs vereinfache und nur konfortabel sei für Leute, die ein gutes Gewissen haben wollten. Allerdings transportierten seine Erzählungen sein Weltbild von der Geschichte als Perversion, als große Hure voller Verkommenheit.

Um Identität und die Identität des brasilianischen Volkes dreht sich auch das darauf folgende Gespräch mit der Schriftstellerin Ana Maria Gonçalves. 1970 in Ibiá (Minas Gerais) geboren, arbeitet sie zunächst in der Werbebranche, wird mit ihrem Leben aber immer unzufriedener. 2002 zieht sie nach Bahia, wo sie ihren ersten Roman Ao lado e à margem do que sentes por mim (Neben und am Rande deiner Gefühle für mich) schreibt, der aus ihrem Blog heraus entstand. Der Erfolg bringt ihr den Verlagsauftrag zu ihrem jüngsten Buch ein: Um defeito de cor (Ein Farbfehler). Auf rund 1000 Seiten erzählt er das Leben einer Frau, die im 18. Jahrhundert von Benin nach Brasilien verschleppt wird und später wieder in ihre afrikanische Heimat zurückkehrt. Das Buch basiert auf umfangreichen Recherchen, welche die Gewalttätigkeit in der brasilianischen Geschichte aufdeckten und sie aus einer afrikanischen Perspektive beleuchten. Gonçalves beklagt das falsche Geschichtsbild, das in Brasilien herrscht und von Brasilien vermittelt wird, wie den Mythos der Rassendemokratie. Die Brasilianer müssten ihre Geschichte noch kennenlernen, um ihre wahre Identität zu finden.

Gewalt ist auch ein Leitmotiv in A Guerra dos Bastardos (2007, dt. Krieg der Bastarde 2013) von Ana Paula Maia. Ihr Protagonist Amadeu entwendet eine Tasche voller Kokain aus dem Büro einer Pornoproduktionsfirma und macht es zu Geld, um mit seiner Geliebten ein neues Leben zu beginnen. Doch die Dinge laufen aus dem Ruder, Amadeu wird überfahren, ohne dass es bemerkt wird. Die Suche nach ihm, dem Stoff und dem Geld führt zu immer groteskeren Situationen. Die Geschichte des Buches sei eine einzige Übertreibung, die zum Lachen provoziere, obwohl sie eigentlich nicht lustig sei, erklärt die 1977 in Rio geborene Autorin. Sie habe alle ihre Referenzen aus Kino und Literatur im Buch zusammengeführt. Nun wird es sogar verfilmt. Sie selbst habe erst spät zur Literatur gefunden, erzählt Maia. Sie sei ein rebellisches Kind gewesen, habe die Schule und Nachbarn terrorisiert und mit 14 das Schlagzeugspielen angefangen. Erst mit 18 habe sie angefangen, sich für’s Lesen zu interessieren. 2003 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Orte interessieren sie dabei nicht, zumal sie in Geografie immer schlecht gewesen sei. Sie erfinde sich lieber selbst welche. Wenn sie schreibe, dann habe sie zuallererst eine Verabredung mit Personen. Edgar Wilson sei so eine. Die tauche in allen ihren Werken auf. Er sei groß, grob, gefährlich, ihr genaues Gegenteil. Und deshalb wohl der Mann, den sie heiraten würde, ergänzt sie lachend. Sie entwickle eine große Leidenschaft für ihre Figuren. Das sei wohl auch der Grund, wieso kaum Frauen in ihren Büchern vorkämen, denn sie würde es nicht ertragen, wenn sich einer „ihrer Männer“ in eine der Frauen verlieben würde. Da sei sie extrem eifersüchtig, eben ganz Brasilianerin…

Nach einer kurzen Gedichtrezitation von Ricardo Aleixo kommen Paulo Scott und João Paulo Cuenca auf die Bühne, zwei der bekanntesten Protagonisten der zeitgenössischen brasilianischen Literatur. Bei Wagenbach ist Scotts vorletzter Roman erschienen: Habitante irreal (2011, dt. Unwirkliche Bewohner 2013). Von Cuenca erschien bereits 2012 im A1-Verlag sein Roman Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall auf Deutsch. Nun folgt Mastroianni. Ein Tag, der bereits 2007 in Brasilien veröffentlicht wurde.

Paulo Scott wurde 1966 in Porto Alegre geboren und engagierte sich früh politisch, studierte Jura und war jahrelang als Dozent an der Universität tätig. Sein Buch Unwirkliche Bewohner handelt ebenfalls von der brasilianischen Identität, diesmal aber der indigenen. Viele Faktoren hätten ihn zu dem Buch gebracht, unter anderem die Tatsache, dass die Selbstmordrate in Brasilien zwar eine der niedrigsten der Welt sei, unter den jungen Indios dagegen eine der höchsten. Diesem Widerspruch wollte er auf den Grund gehen und erzählte daher die Geschichte einer unmöglichen Liebe zwischen dem Jurastundenten Paulo und dem Indianermädchen Maína, aus der der gemeinsame Sohn Donato hervorgeht, welcher als junger Mann die Selbstzufriedenheit der brasilianischen Gesellschaft entlarvt.

Mastroianni. Ein Tag von João Paulo Cuenca erzählt von zwei Freunden, die orientierungslos und ausschweifend durch eine imaginäre Stadt streifen und ihren Vorbildern nacheifern, allen voran der von Marcello Mastroianni verkörperten Hauptfigur aus Fellinis „Achteinhalb“.

Beide Romane kreisen wieder um das Thema Identität. Doch statt sich allzu lange bei ihren Werken auszuhalten, kommentieren die Autoren lieber die aktuellen Verhältnisse in ihrem Land. Brasilien sei der brutalste Ort der Welt, meint Cuenca. Die Realität kontrastiere mit dem vorherrschenden Bild der Freude und Ausgelassenheit. Die schlimmste Gewalt werde gegenüber der Zeit verübt, was sich darin ausdrücke, wie historische Gebäude abgerissen würden um neue an ihre Stelle zu setzen. Hipstertum und Gentrifizierung seinen nicht nur in Berlin ein Thema, sondern auch in Rio, wo Cuenca geboren wurde und lebt. Er hasse den 7. September. Von Unabhängigkeit könne keine Rede sein, statt dessen habe sich Brasilien selbst kolonialisiert. Die Arbeiterpartei halte dieselbe mörderische Struktur aufrecht, wie sie seit Jahrzehnten in Brasilien herrsche. Die Gewalt der Demonstranten werde kriminalisiert, während die Polizei die Favelas „pazifiziere“ und dann das Gleiche mache wie die Drogenbanden zuvor. Auch die herrschenden Medien seien antidemokratisch und schlügen sich auf die Seite der Polizei und schwiegen sich über die Toten und Verschleppten in den Favelas aus.

Paulo Scott assistierie und kritisierte, dass die Probleme nicht angegangen würden. Das Parlament und seine Politiker seien zu nichts nütze. Das Volk sei zu passiv und selbstzufrieden. Insofern seien die Massendemos im Juni für alle überraschend gewesen.

Michael Kegler schloss den Abend mit der Bemerkung, Literatur sei zwar keine Landeskunde, aber man erfahre mittels Literatur viel über ein Land. Wohl wahr. Schriftsteller haben eine andere Art als Medien, Politiker oder Wissenschaftler, sich mit dem Zeitgeschehen auseinanderzusetzen. Deswegen brauchen wir sie. Um uns ein umfassenderes und wahrhaftigeres Bild von einem Land und seiner Gesellschaft zu machen.

Wer sich einen Überblick über die Literatur Brasiliens der Vergangenheit und Gegenwart verschaffen will, dem sei die Anthologie In so einem Augenblick ist alles möglich empfohlen, die Michi Strausfeld für die Zeitschrift „die horen“ zusammengestellt hat. Sie vereint erstmals Texte von Jorge Amado, Carlos Drummond de Andrade, João Paulo Cuenca, Cecília Meireles, Miguel Sachez Neto, Nelson Rodrigues und vielen mehr in einem Band – alles in Erstübersetzung!

Brasilien auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin

Was nun, Frau Rousseff?

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