Paulo Coelhos Absage an die Frankfurter Buchmesse

Brasilien ist Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse (9.-13. Oktober 2013). Aber ausgerechnet Paulo Coelho, der populärste und erfolgreichste Autor des Landes, sagt seine Teilnahme ab. Und wird so als Phantom über der größten Buchmesse der Welt schweben.

Brasilien hat keinen prominenteren, lebenden Autoren zu bieten als Paulo Coelho: Mit 135 Millionen Exemplaren (Stand: 2012, laut wikipedia) zählt er zu den Top-Ten-Bestsellern der Welt. Der in den sozialen Netzwerken sehr aktive Schriftsteller hat auf Twitter fast 8,6 Millionen Follower, auf Facebook gar 12,6 Millionen Fans.

Diese Dominanz des von vielen Feuilletonisten als seicht verschrieenen Vielschreibers sorgt dafür, dass nur ausgewiesenen Literaturkennern noch weitere Namen einfallen, wenn von brasilianischer Literatur die Rede ist. Den anderen fällt vielleicht auf Anhieb noch Jorge Amado ein.

Als ich letztes Jahr auf der Buchmesse den brasilianischen Stand besuchte, hörte ich einen Vortrag über den dortigen Buchmarkt, der meinen persönlichen Eindruck im Land bestätigte: Dank des schlechten allgemeinen Bildungsniveaus und eines nach wie vor verbreiteten funktionalen Analphabetentums ist Brasilien kein literarisches Land. Ernsthafte Schriftsteller haben es dort schwerer als hier. In den Bestsellerlisten finden sich dieselben internationalen Hits wie andernorts (Shades of Grey etc.) sowie Ratgeber und Autobiographisches von nationalen Show- und TV-Größen. Da ist viel U und wenig E.

So witzelte ich letztes Jahr in meinem Artikel:

So wird Brasilien im nächsten Jahr als Ehrengast der Buchmesse nicht viel mehr als Superstar Paulo Coelho präsentieren können, der mittlerweile in Genf lebt. Aber das reicht ja auch. Coelho wird einfach für die fünf Tage durchgebucht, setzt oder stellt sich ins Forum und liest aus seinen Werken, beantwortet Fragen in allen Sprachen, die er fließend spricht und schreibt (Portugiesisch, Spanisch, Englisch). Wie ein Meister mit seinen Jüngern. Das wäre ein Event!

Und nun das! Paulo Coelho kommt nicht! In einem Interview, das er Martin Scholz für die WELT am SONNTAG gab (6.10.13, keine Links zu dt. Verlagserzeugnissen), begründete Coelho dies mit der Auswahl der 70 Schriftsteller, die zur Messe geschickt werden:

Ich möchte bezweifeln, dass es sich bei allen um professionelle Schriftsteller handelt. Von den 70 Eingeladenen kenne ich nur 20, von den anderen 50 habe ich noch nie etwas gehört. Das sind vermutlich Freunde von Freunden von Freunden. Eine Vetternwirtschaft. Was mich daran am meisten ärgert: Es gibt ja eine neue, aufregende Literaturszene in Brasilien. Viele der jungen Autoren finden sich aber nicht auf dieser Liste wieder.

Und er nennt einige, die er vermisst:  Eduardo Spohr, Carolina Munhóz, Thalita Rebouças, André Vianco, Felipe Neto oder Raphael Draccon.

Bei den genannten Autoren handelt es sich laut globo.com um einige der populärsten Autoren Brasiliens. Sie stünden für die Gattung der Kinder- und Jugendliteratur, die ein großes Phänomen auf dem brasilianischen Buchmarkt darstelle. Paulo Coelho habe diese Autoren öffentlich protegiert.

Manuel da Costa Pinto, einer der Kuratoren der brasilianischen Präsenz auf der Buchmesse, zeigte sich noch in Unkenntnis von der Absage auf Anfrage von globo.com überrascht:

Wenn dies bestätigt werden sollte fände ich das bedauerlich, weil die Gegenwart des populärsten Autors von Brasilien im Ausland in Frankfurt unentbehrlich ist. Die Auswahl ist nicht von persönlichen Geschmäckern geleitet. Wir versuchen Genres und Autoren zu betrachten, die Relevanz und Konsistenz in der literarischen Szene Brasiliens haben, mit guter Rezeption bei Kritik und Publikum.

Der Streit dreht sich also scheinbar um E und U, um Ernsthaft versus Unterhaltung. Paulo Coelho holt in dem Interview aber noch weiter aus und äußert seine Enttäuschung mit der gegenwärtigen brasilianischen Regierung, seine Sympathie mit den diesjährigen Demonstrationen gegen Korruption und Verschwendung:

Die gegenwärtige brasilianische Regierung ist für mich ein Desaster. Egal wo ich bin, ständig werde ich gefragt, was in meinem Land falsch läuft. Die Regierung hat das Blaue vom Himmel versprochen – und nichts davon gehalten. Das läuft falsch.

Da wäre er mit vielen der eingeladenen Autoren Brasiliens wieder auf einem gemeinsamen Nenner. Die Kritik an den herrschenden Verhältnissen (die keineswegs nur der gegenwärtigen Regierung anzulasten sind) ist bei den brasilianischen Intellektuellen offenbar en vogue. Überhaupt malen sie ein ziemlich negatives Bild ihres Landes, wie man beim Internationalen Literaturfestival Berlin im September erfahren konnte, über das ich berichtet habe.

In der aktuellen Literaturbeilage der Wochenzeitung DIE ZEIT schreibt Feuilletonchef Jens Jessen über vier lebende Schriftsteller Brasiliens (Chico Buarque, Andréa del Fuego, Daniel Galera und Bernardo Carvalho). Überschrift: „Gewalt der Moderne“. Von „entfesselter Konkurrenz“ ist die Rede, von einem Staat und einer Polizei, denen die Bürger „vollkommen ungeschützt“ gegenüberstehen. Gewalt, Melancholie, Korruption – das scheint demnach das wahre Brasilien zu sein.

Ich will mich hier nicht schlauer machen als die literarische Szene Brasiliens. Aber mir erscheint diese Sicht der Dinge genauso einseitig wie der Gegenentwurf des fröhlichen, karnevals- und fussballverrückten Tropenlandes, in dem Milch und Honig fließen. Brasilien hat eben viele Gesichter, viele Seiten. Es ist ein Land der Kontraste. In dem man himmlisches Glück und teuflisches Elend gleichermaßen erfahren kann.

Die Absage von Paulo Coelho ist ein Schlag ins Gesicht der Organisatoren. Und für seine Fans sicher eine große Enttäuschung. Auf der anderen Seite eröffnet sich für die angereisten Autoren die Chance, aus dem übermächtigen Schatten des „Magiers“ herauszutreten und einen Blick auf die Vielfalt der brasilianischen Literatur zu erlauben.

Die Reaktionen in der deutschen brasilophilen Literaturszene sind gespalten. Die einen regen sich auf und halten Coelhos Begründung angesichts der „tollen Leute“, die aus Brasilien kommen, für „unterste Schublade“. Andere sehen es gelassen und sehen die Absage als „PR-Gag, wie so ziemlich alles im Werk dieses Autors“. Ein Insider der Buchmesse antwortete mir heute auf Anfrage:

Es war den meisten doch schon seit Monaten klar, dass er nicht kommen würde. Und vermutlich wird er doch irgendwo mit großem Gerausche auftauchen. Hat mich nie gestört und wird mich auch nicht stören.

Ach ja, die Brasilianer. Immer wenn sie zusammenkommen, gibt es am Ende nur eine große confusão…

Paulo Coelho und sein „In Accra gefundenes Manuskript“

Pünktlich zur Buchmesse: Mein Bildband über die  50 Highlights von Brasilien

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