Der Witzel aus Rio de Janeiro

Witzel heißt seit Jahresanfang der neue Gouverneur (vergleichbar mit Ministerpräsident in Deutschland ) vom Bundesstaat Rio de Janeiro mit seiner berühmten Landeshauptstadt Rio de Janeiro. Kein Witz! Der heisst wirklich so! Nur ist der Typ eigentlich gar nicht witzig, sondern ein ziemlicher Möchtegern-Rambo. Seit der Bruder im Geiste des neuen rechtskonservativen bis radikalen Präsidenten Jair Bolsonoro (ebenfalls aus Rio) am Hebel ist, ist die Gewalt in Rio de Janeiro geradezu explodiert! Nun exportiert Witzel seine fragwürdige Politik auch noch in meine Nachbarstadt Angra dos Reis!!

Manchmal fragt man sich, wie dämlich jemand eigentlich sein kann. Aber offenbar ist diese Skala nach oben so offen wie die berühmte Richterskala, mit der die Stärke von Erdbeben gemessen wird. Die ist auch nach oben offen.

Bisher vernahm ich nur aus diversen Medienquellen und Hörensagen, was in Rio seit seiner Amtsübernahme los ist. Und das ist alles andere als ein Ruhmesblatt! Da die von der Politik und auch vielen Bürgern angestachelte Pogromstimmung gegen die tatsächlich existierende Gewalt aus den Favelas nun ein Ventil gefunden hat, scheinen alle Scheunentore offen. Mit geradezu exzessiver Gewalt und militärischer Übermacht fallen die Militärpolizei und ihre militärischen Verbündeten über einzelne Favelas her und ballern alles nieder, was ihnen in den Weg kommt. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Vor allem Leute aus dem Reichen-Milieu und dem Mittelstand applaudieren dazu, denn dafür haben sie Bolsonaro gewählt, dass er der Gewalt der Drogenbanden endlich ein Ende bereitet!

Nun ist das natürlich so eine Sache, ob dieses nachvollziehbare Ziel damit erreicht wird, dass man mit massiver Gewalt gegen die arme Zivilbevölkerung vorgeht, die sich nicht anders zu wehren weiß, als ebenfalls mit Gewalt.

In meiner Nachbarstadt Angra dos Reis hat sich dieser Tage genau die Absurdität dieser Auffassung mehr als deutlich belegen lassen.

Gewalt von Drogengangs und wem sonst noch gibt es dort schon lange. Die Hafenstadt Angra dos Reis gilt seit Jahren nicht unbedingt als sicherer Hafen für Reisende, obwohl von genau hier die Fähren rüber zu der sehr beliebten Ferieninsel Ilha Grande übersetzen. Dieses Areal galt bislang auch als ziemlich sicher, weil natürlich alle in der Stadt ein Interesse daran haben, dass Angra dieses wichtige Tor zur Insel bleibt.

Vermutlich, um ein Zeichen seiner Solidarität und Aufmerksamkeit zu setzen und dem Bürgermeister beizuspringen, traf am Wochenende der besagte Gouverneur Witzel aus Rio de Janeiro ein, um sich mit dem Bürgermeister der Stadt und einigen Militärpolizisten vor einem Militärhubschrauber zu positionieren und in schlechter John-Wayne-Manier lautstark zu verkünden, jetzt werde durchgegriffen! Flugs stakte man zum Hubschrauber.

Danach überflog man die berüchtigte Favela (Armensiedlung) von Sapinhatuba und schoss aus dem fliegenden Helikopter (Rios Favela-Bewohner kennen das zur Genüge) auf vermeintliche Drogendealer und Verbrecher. Kurz darauf stellte sich aber heraus, dass es sich um eine Gruppe freikirchlicher, evangelikaler Protestanten handelte, eigentlich eine gesellschaftliche Fraktion, die Bolsonaro bei der Wahl zum Präsidenten massiv unterstützt hat!

Tja, dumm gelaufen. Jetzt ist die Aufregung groß!!

Kaum ist Witzel wieder abgereist, gab es gestern eine Retour-Kutsche. Aus der besagten Favela, die an bessere Viertel der Stadt angrenzt, wurden offenbar ziemlich wahllos Gewehrsalven abgefeuert, drei nach offiziellen Angaben unbeteiligte Menschen wurden dabei von Kugeln getroffen, überlebten aber.

Die an der Favela vorbeiführende wichtige Bundesstraße BR-101, die Rio de Janeiro mit der Hafenstadt Santos im südlicher gelegenen Bundesstaat São Paulo verbindet, musste wegen der Schießerei für rund zwei Stunden gesperrt werden.

Auch eine Gruppe von rund 30 Franzosen befand sich im Gefahrenbereich. Kinder eines benachbarten Kindergartens mussten wegen der Schüsse in Deckung gehen.

Dieser Vorfall hat die Region sehr schockiert.

Denn es sieht so aus, als würde die Gewalt von Rio de Janeiro zu uns herüberschwappen.

Ich will und kann dem Gouverneur Witzel nicht unterstellen, dass er mit der bösen Absicht kam, die Lage weiter eskalieren zu lassen. Im Gegenteil. Diese Leute glauben tatsächlich, dass man die Probleme mit dem Drogenhandel und der Armut in bestimmten Vierteln mit Gewalt lösen könne. Aus ihrer Sicht sind das tatsächlich alles Verbrecher!

Die Dinge sind in Wahrheit aber immer etwas komplizierter. In Brasilien gibt es praktisch kein soziales Netz, außer der eigenen Familie, vor allem für Arme. Und da ihre Viertel von der Politik und den Gutsituierten vernachlässigt werden (obwohl dort viele ihrer Angestellten leben), sehen manche Menschen keinen anderen Ausweg, als kriminell zu werden. Längst haben sich diese Dinge aber auch professionalisiert und institutionalisiert. Wer in der Favela aufwächst, weiß, dass er die Arschkarte gezogen hat. Und tut natürlich alles in seiner Macht stehende, aus diesem Schlamassel auszubrechen oder das Beste draus zu machen. Manche schaffen es als Musiker*in, Tänzer*in oder Fussballspieler. Aber das sind die Wenigsten. Einmal arm, immer arm.

Gouverneur Witzel und Präsident Bolsonaro fühlen sich mit dieser Region um Angra dos Reis sehr verbunden. Es ist eines der beliebtesten Naherholungsgebiete für gestresste Cariocas und der Präsident hat in meiner Nähe sogar ein Haus, in dem er bis zum Amtsantritt oft und gerne ausgespannt hat. Er ist hier deswegen durchaus beliebt. Viele kennen ihn persönlich.

Trotzdem zeichnet sich ab, dass seine Pläne, die er mit unserer Region in touristischer Hinsicht hat, vielleicht nicht ganz nach dem Geschmack der ganzen Bevölkerung sind. Heute verbreitete einer seiner Anhänger einen Flyer über Facebook, dass Bolsonaro aus Angra dos Reis ein neues Cancún machen möchte!

Auch die lästigen Radarfallen sollen hier verschwinden, damit man ungestört über die Bundesstraße brettern kann. Ein bislang geschütztes Areal, wo Fischen verboten ist, soll seinen Schutzstatus verlieren. Bolsonaro hatte vor einiger Zeit dieses Verbot missachtet und wurde dafür verurteilt. Künftig will er also Petri Heil für sich. (Das kann ich alles nicht verbürgen, habe es aber aus Quellen, die ich für vertrauenswürdig halte und wird auch von niemandem bestritten.)

Die Kommentare dazu aus der Bevölkerung sind durchaus gemischt. Bolsonaros Anhänger applaudieren wie von Sinnen, wie sie es immer tun, wenn ihr vermeintlicher Heilsbringer etwas tut oder sagt, egal was.

Andere Stimmen sehen das deutlich kritischer und glauben nicht, dass das der richtige Weg ist. Wenngleich das nicht dem grundsätzlichen Gedanken widerspricht, mehr Geld in Agra dos Reis zu investieren, um die Stadt wieder lebenswerter und attraktiver zu machen.

Die Probleme sind ja nicht zu bestreiten. Die Frage ist nur, welches der richtige Weg ist, um sie zu lösen. Kamerageile Action-Szenen, welche selbst Unschuldige in Angst und Schrecken versetzen, sind es mit Sicherheit nicht.

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