Brasilien und Bolsonaro in Zeiten der Corona-Pandemie

Eines müssen selbst die größten Bolsonaro-Gegner eingestehen: Spätestens, seit er die Wahl Ende 2018 gewann und am 1. Januar 2019 sein Amt als Präsident der Republik antrat, genießt Brasilien eine lange nicht gekannte weltweite Aufmerksamkeit. Allerdings hat diese Aufmerksamkeit eine hässliche Seite: Das Image Brasiliens war lange Zeit nicht so schlecht wie jetzt. Die internationale Echokammer hat Jair Messias Bolsonaro von Beginn an zum Beelzebub ernannt, der an allem schuld ist. Bei so viel Einmütigkeit und Schwarz-Weiss-Malerei sollten eigentlich jedem vernunftbegabten und halbwegs kritischen Menschen zumindest Zweifel kommen.

Nun bin ich weiß Gott kein Bolsonaro-Fan, wie die Lektüre meines Blogs und meiner Tweets auf Twitter zu Genüge belegen. Ich bin Fan von keinem einzigen aktiven Politiker weltweit und ändere meine Meinung über sie bei gegebenem Anlass auch.

Ich stehe auf Niemandes Lohnliste und bilde mir völlig unabhängig mein eigenes Urteil kraft meiner langjährigen professionellen Beobachtung der Geschehnisse und meiner ganz persönlichen, intensiven Erfahrungen.

Ich erhebe auch nicht den Anspruch, über die allein gültige Wahrheit zu verfügen, zumal ich – wie selbst die meisten Journalisten namhafter Leitmedien – das Meiste nur aus zweiter oder dritter Hand bekomme. Ich kenne Bolsonaro nicht persönlich und treibe mich auch nicht in den politischen Kreisen herum, wie ich es als Journalist zwischenzeitlich in Deutschland tat. Ich kenne allerdings etliche Leute, die Bolsonaro persönlich kennen oder mal getroffen haben.

Ein Herz für Paraty

Ich lebe ja seit gut zweieinhalb in der Region von Paraty. Das ist eine kleine, historisch und kulturell bedeutsame Kleinstadt an der wundervollen Costa Verde (Grüne Küste) zwischen Rio de Janeiro und São Paulo, die im vergangenen Jahr von der UNESCO den Titel als Weltkultur- und Naturerbe erhalten hat.

Schon allein deshalb genießt Paraty vor allem nationale, aber auch internationale Aufmerksamkeit. Die von üppigem atlantischem Regenwald umgebene Region mit ihren 365 Inseln, unzähligen Stränden und Wasserfällen ist ein Hot Spot des brasilianischen Tourismus und profitiert von ihrer strategisch günstigen Lage zwischen den benachbarten Mega-Metropolen Rio und São Paulo, aus denen die Mehrzahl der Inlandstouristen kommt.

Die Familie von Jair Bolsonaro lebt und stammt aus Rio de Janeiro, zu dessen Bundesstaat Paraty gehört, knapp an der Grenze zum Bundesstaat São Paulo, welches das ökonomische Herz ganz Lateinamerikas darstellt. Allein in SP wird ein Drittel des brasilianischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) erwirtschaftet!!

Bolsonaro besitzt sogar eine Art Ferienhaus in der rund 25 km von mir entfernten Nachbarstadt Parque Mambucaba/Perequê, das er in Zeiten, wo er „nur“ Kongress-Abgeordneter in der Hauptstadt Brasília war, häufig aufsuchte. Es gibt also viele Leute hier in der Gegend, die ihn persönlich kennen. Bolsonaro selbst fühlt sich eng mit unserer Region und der Bevölkerung verbunden und kennt sie gut, was sicher nicht von Nachteil sein muss. Das veranlasste ihn gleich zu Beginn seiner Amtszeit zu dem Versprechen, die größte Nachbarstadt Angra dos Reis in eine Touristenmetropole nach dem Vorbild des mexikanischen Cancún zu verwandeln – eine Idee, die bei an Umweltschutz und Nachhaltigkeit interessierten Einwohnern zwar auf wenig Begeisterung stieß, aber dennoch bei der Mehrheit positive Hoffnungen weckte, da es der heruntergekommenen Stadt mit dem nächstgelegenen Hafen zur wunderbaren Insel Ilha Grande an Attraktivität, Prosperität und Perspektiven fehlt.

„Mann des Volkes“

Wenn man mit Leuten spricht, die Bolsonaro persönlich kennen, dann reden sie überwiegend positiv über ihn.

Bolsonaro ist ein „Mann des Volkes“. Er ist kommunikativ und kontaktfreudig und direkt. Er spricht frei von der Leber weg, wie es ihm gerade in den Sinn kommt und ist in dieser Hinsicht ein typischer Brasilianer: Immer das Herz auf der Zunge, impulsiv, direkt, authentisch, des Öfteren durchaus irrational.

Das internationale Missverständnis über Bolsonaro beruht nicht zuletzt darauf, dass Menschen, die Brasilien nicht persönlich kennen, die Worte des Präsidenten viel zu sehr auf die Goldwaage legen (dass seine innenpolitischen Gegner das tun, ist Teil des politischen Geschäfts und nicht der Aufmerksamkeit wert). Im Zuge der internationalen Aufmerksamkeit für die Brände im Amazonas musste Bolsonaro allerdings lernen, dass seine Worte auch international gehört wurden und seine mitunter grobe Wortwahl auf Unverständnis und Widerstand stößt. Bolsonaro musste und muss nach wie vor lernen , seine Worte klüger und überlegter abzuwägen, was allerdings wenig seinem Naturell zu entsprechen scheint. Da ähnelt er in der Tat dem US-Präsidenten Donald Trump, mit dem Bolsonaro „Tropen-Trump“ ja gerne auf eine Stufe gestellt wird (geflissentlich missachtend, dass sie völlig unterschiedliche Sozialisationen erlebt haben).

Bolsonaro hat – ähnlich wie Trump – mit einer im Inland tief gespaltenen Öffentlichkeit zu tun (international gibt es eigentlich eh nur eine, nämlich negative Meinung). Ähnlich wie die Demokraten in den USA, ging die Opposition gleich nach Bolsonaros Wahlsieg daran, ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen und möglichst frühzeitig aus dem Amt zu heben. Alles, was die Regierung tat und anpackte – und das war eine Menge – wurde sofort in Bausch und Bogen verurteilt und im Parlament blockiert, wo Bolsonaro NICHT über eine eigene Mehrheit verfügt (weswegen er alles andere als ein Diktator sein kann, als den ihn viele „Linke“ diffamieren).

Kaum ein halbes Jahr im Amt, wurde Brasilien von einem medialen Tsunami überrollt, als die Brände in der Amazonas-Region die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich zogen und Bolsonaro als verantwortlicher Brandstifter angeprangert wurde. Schon damals ging diese holzschnittartige Schwarz-Weiß-Malerei völlig an den Realitäten und nüchternen Fakten vorbei, aber das interessierte in dieser weltweiten Hysterie niemanden, nicht einmal die „professionellen“ Beobachter, die es sich auch äußerst leicht machen  mit ihren plakativen Einordnungen.

Imageschaden dank Bolsonaro

Nun ist ein schlechtes Image nicht unbedingt geschäftsfördernd, zumal die Regierung von Bolsonaro mit dem Anspruch angetreten ist, die Wirtschaft des Landes nach einer jahrelangen Krise wieder auf Wachstumskurs zu bringen und internationalen Investoren den Zugang zu erleichtern, ohne die unter Präsident Lula üblichen Schmiergeldgeschäfte. Doch für die nationale wie internationale Journaille samt gesinnungsgetriebener Öffentlichkeit war diese Politik nur dazu gedacht, einen neo-liberalen Ausverkauf des Landes zu betreiben.

Ich kann das aus der Ferne nicht beurteilen, weil ich genauso wenig wie die Meisten in Bolsonaros Pläne und Absichten eingeweiht bin. Aber die Einschätzungen von Leuten als bare Münze zu nehmen, die überhaupt keine Ahnung von Brasilien haben und/oder von vornherein strikt gegen alles sind, was er sagt und tut, ist definitiv nicht relevant.

Brasilien war vor Corona durchaus auf einem guten Weg. Die ökonomischen Indikatoren zeigten nach oben. Bolsonaro wurde bei seinen Antrittsbesuchen in den USA, China, Indien, im Nahen und Mittleren Osten überall mit offenen Armen aufgenommen. Bezeichnend, dass er Europa bisher keinen Besucht abgestattet hat. Nach den Erfahrungen, die Bolsonaro anlässlich der Amazonas-Brände mit Frankreichs Präsident Macron und der EU machte, ist das aber auch keine Überraschung.

Brasilien befindet sich global gesehen eigentlich in einer komfortablen Lage: es verfügt über riesige Mengen an Rohstoffen und ernährt als Agrar-Supermacht ein Viertel der Weltbevölkerung, allen voran China. Mit dem Amazonas-Regenwald verfügt es über den größten, zusammenhängenden tropischen Regenwald des Planeten, der oft (aber fälschlich) als „Grüne Lunge“ des Planeten tituliert wird. Außerdem verfügt das fünftgrößte Land der Erde angesichts von nur rund 200 Millionen Einwohnern nach wie vor über riesige Landmassen, die kaum bis garnicht genutzt werden. Als Konsumenten sind die Brasilianer selbst bei internationalen Konzernen ebenfalls sehr beliebt, denn Brasilianer sind – soweit die Umstände es zulassen – konsum- und experimentierfreudig und für Neuheiten immer schnell zu haben.

Die Krake der Korruption

Politiker, Entscheider und andere Insider wissen, dass nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird. Das Ansehen eines Präsidenten oder Landes ist für sie völlig irrelevant, solange das Objekt nur genügend Begierde auslöst. Und das ist bei Brasilien zweifellos der Fall.

Die Welt braucht Brasilien. Sie kann nicht ohne. Und umso mehr steht es natürlich im Fokus der Weltpolitik.

Die Europäer und internationale Linke haben das Problem, dass sie sich zu sehr an den charismatischen, aber dennoch höchst korrupten Ex-Präsidenten Lula und seine Partei gekettet haben. Die Bolsonaro-Gegner und Lula-Anhänger ignorieren dabei geflissentlich, dass die Lula-Partei PT samt der zentralistischen Vorgänger Brasilien erst zu dem korrupten Sumpf haben verkommen lassen, den Bolsonaro auszutrocknen versprochen hat. Es ist schon paradox, dass ausgerechnet jene sich moralisch über Bolsonaro erheben wollen, die gleichzeitig einen solchen Diebstahl an öffentlichen Geldern für vernachlässigenswert halten!

Es gibt viele mächtige Kräfte in der Welt, die ein Interesse daran haben, dass die alten Seilschaften wieder das Ruder übernehmen, denn unter Lula und Dilma feierten der Ausverkauf Brasiliens und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen fröhliche Urstände. Das Hauptinteresse brasilianischer Politiker im Zuge des damaligen Wirtschaftsbooms, der internationalen Großereignisse Fussball-WM 2014 und Olympische Spiele 2016 bestand vor allem darin, wie sie die Gelegenheit nutzen konnten, dabei möglichst viel selber abzusahnen.

Seit ich Brasilien bereise und erst recht seit ich hier wohne, wird mir das Ausmaß der hiesigen Korruptionskultur immer bewusster. Es macht einen schier fassungslos, wenn man teils offen wie hinter vorgehaltener Hand erfährt, was hinter und vor den Kulissen alles an Schweinereien passiert. Die Gier selbst kleinster Provinzpolitiker ist schier unstillbar. Der Zugang zu den Entscheider-Posten gilt als Türöffner zu den Fleischtöpfen, von denen der Politiker so viel wie möglich für sich und seine Sippe abzuzweigen trachtet. Mit diesem Geld kauft er sich bei anstehenden Wahlen die nötigen Wählerstimmen. Der Einsatz ist überschaubar, denn arme Wähler lassen sich schon mit Kleinigkeiten wie einer Cesta Básica (Sack mit Grundnahrungsmitteln) abspeisen.

Per Verfassung ist Brasilien ein Rechtsstaat. Doch gilt hier mehr wie in Deutschland: Das Recht lässt sich beugen, und wer die besseren Anwälte, Kontakte und das Kapital hat, hat auch die besseren Karten.

Außerdem hat gerade die Corona-Krise mit all ihren innenpolitischen Turbulenzen mehr als deutlich zutage gefördert, dass das Oberste Verfassungsgericht STF alles andere als politisch neutral ist. Im Gegenteil. Die PT hat dort ihr gewogene Richter installiert, die keinen Hehl aus ihrer politischen Parteilichkeit machen und der Regierung zusätzlich Schwierigkeiten bereiten.

Nun kann man über viele Ansichten Bolsonaros gerne geteilter Meinung sein und seine Wortwahl kritisieren, aber er wurde von einer Mehrheit der Bevölkerung gewählt, und das durchaus aus guten Gründen. Alle Brasilianer als dumm, rassistisch und homophob und sonstwas zu diffamieren, die ihn gewählt haben, ist selbst dumm und oberflächlich und zeugt nur von der Ahnungslosigkeit oder Böswilligkeit der Kommentatoren.

Die Dinge sind, wie immer, viel komplexer und komplizierter. Aber so tief wollen die Meisten garnicht bohren. Wozu auch, wenn man sich eine naive Welt in Schwarz-Weiß malen kann, wo alles sofort in eine Schublade passt.

Wie rechts-radikal ist Bolsonaro wirklich?

Das Missverständnis über Bolsonaro beruht vor allem darauf, dass die Meisten ihn und das Land garnicht kennen oder verstehen wollen. Für sie ist Bolsonaro einfach rassistisch, rechts-radikal, faschistisch, homophob. Und führen dazu die immer selben alten Interviewschnipsel als Beweis an, wo er mal auf seine typisch saloppe Art herumschwadronierte.

Die Gegner verkennen, dass er damit bei vielen Brasilianern gut ankommt. Weil sie selbst gerne schwadronieren, diskutieren, kolportieren, provozieren und dabei nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.

Ich glaube nicht, dass Bolsonaro ein Rassist ist. Im brasilianischen Alltag ist Rassismus garnicht praktikabel, denn die Bevölkerung ist seit der Kolonialisierung ein multi-ethnischer Schmelztiegel. Die meisten Brasilianer sind eine Mischung diverser Völker und Nationalitäten, die sich in Brasilien angesiedelt haben: mit indigenen, europäischen, afrikanischen, asiatischen, arabischen und amerikanischen Wurzeln. Es macht keinen Sinn, die brasilianische Bevölkerung in rassistischer Weise zu sortieren, weil die Mehrheit eine Mischung aus allem Möglichen ist. Das heißt nicht, dass es nicht trotzdem vielfältige Ausprägungen von Rassismus gibt. Aber er ist weder Staatsdoktrin noch irgendwie Teil der politischen Ideologie von Bolsonaro und seinen Anhängern. Der Rassismus spielt ja nicht einmal in der öffentlichen Debatte eine Rolle, weil es zwischen Schwarz und Weiß viel zu viele Schattierungen gibt.

Ist Bolsonaro homophob? Keine Ahnung. Hier und da hat er sich über LGBT lustig gemacht oder sich darüber empört. Aber auch damit steht er nicht allein. Denn abgesehen davon, dass Brasilien nach wie vor ein konservativ-christlich geprägtes Land ist, spielt auch die archaische Macho-Kultur noch eine starke Rolle. In „links-grün-versifften“ Gutmenschen-Ohren mögen manche Sprüche zwar reichlich provokant klingen, aber es sind nicht mehr als launige Sprüche für die Galerie, um die Leute bei Laune zu halten. Es gibt in der inzwischen mehr als eineinhalbjährigen Regierungszeit Bolsonaros nicht ein Gesetz oder Dekret, dass in irgendeiner Weise die Rechte von LGBT-Leuten eingeschränkt hätte. Bolsonaro hat sich oft und klar zur brasilianischen Verfassung bekannt, welche wie das Grundgesetz alle bürgerlichen und sexuellen Freiheiten garantiert.

Trotzdem ist Brasilien nicht Europa. Brasilien ist ein junges Land, in dem Liberalismus, Intellektualismus und Bildung wenig ausgeprägt sind. Die Brasilianer sind in der großen Mehrheit ziemlich einfach gestrickte Leute, wenig reflektiert, sondern impulsiv, instinktiv, pragmatisch.

Auch Bolsonaro ist alles andere als ein Gelehrter und geistiger Überflieger. Aber das war sein Vor-Vorgänger noch weniger. Lula rühmte sich ja geradezu damit, als funktionaler Analphabet und Nicht-Akademiker bis an die Spitze des Landes gekommen zu sein. Trotzdem war Lula ein charismatischer Kommunikator, der gerade mit seiner Schlichtheit und Schlitzohrigkeit Menschen zu fischen verstand.

Ist Bolsonaro „rechts-radikal“, „faschistisch“? Das Etikett des Rechtsradikalen wird ihm ja völlig unreflektiert selbst in angeblich so objektiven Nachrichtenformaten wie der Tagesschau angeheftet. Aber mit welchem Recht? Er selbst bezeichnet sich als Mitte-Rechts (Centro Direita) und macht auch keinen Hehl daraus.

Aber was soll „rechts“ sein?

Dass Bolsonaro sich an einem konservativen Leitbild orientiert, welches die Familie und den christlichen Glauben in den Mittelpunkt stellt? Das ist nicht verboten und kann man ertragen, zumal in einem Land, wo beides in der Tat noch eine sehr viel größere Rolle spielt als in Deutschland.

Dass Bolsonaro das Brasilianische Militär verherrlicht, in dem er selbst jahrelang als Offizier gedient hat und gelegentlich den als Folterer verurteilten Ex-Oberst Ustra als Helden verteidigte?

Nun genießen die Brasilianischen Streitkräfte über alle Parteien hinweg bei der Politik wie Bevölkerung eine hohe Anerkennung. Sie gelten als weitgehend unpolitisch und vor allem patriotisch, als eine stabile und starke Institution. Das allein macht Bolsonaro also nicht verdächtig. Und über die Zeit der Militärdiktatur herrschen in der Tat sehr unterschiedliche Auffassungen. Während die extremen Linken sie verdammen, weil sie verfolgt, gefoltert oder gar getötet wurden, hört man unter denjenigen, die in der Zeit gelebt haben, auch viel Positives: dass es seine Zeit der Sicherheit war, wo man unbehelligt nachts auf der Straße sein und sein Auto mit offenem Fenster stehen lassen konnte. Das deckt sich mit meiner persönlichen Erfahrung als Kind in den letzten fünf Jahren der spanischen Franco-Diktatur, die ich als sehr behütet erinnere. Gefährlich war sie nur für linke Aktivisten, die das System bekämpften.

Das Thema ist letztlich zu komplex, vor allem im Zusammenhang mit Brasilien, als dass ich mir darüber ein Urteil erlauben würde, zumal ich nicht selbst dabei war. Ich würde Bolsonaros Äußerungen in dieser Hinsicht jedenfalls nicht zu hoch bewerten. Sie spiegeln lediglich ein Meinungsbild wider, das in der brasilianischen Gesellschaft verbreitet ist. Die Militärdiktatur wurde auch nie so aufgearbeitet wie zum Beispiel die Nazi-Herrschaft in Deutschland. Brasilianer sind überhaupt wenig an der Vergangenheit interessiert und die Meisten zu wenig informiert, um qualifiziert darüber debattieren zu können. Brasilianer interessieren sich mehr für’s Jetzt und Hier, als sich allzu lange mit vergossener Milch aufzuhalten.

Auch wenn ich selbst sicher nicht mit allem übereinstimme, was Bolsonaro sagt und macht, so nehme ich ihm ab, dass er als echter Patriot sein Land, die Leute und Kultur von Herzen liebt, das Beste für sein Land will und einen großen Teil der gegenwärtigen brasilianischen Gesellschaft damit repräsentiert.

Brasilien hat unter der Arbeiterpartei PT über Jahre hinweg Aufstieg und Fall des Schwellenlandes am eigenen Leib erlebt, die massenhaften  Verhaftungen und Prozesse im Zuge des Lava-Jato-Korruptionsskandals durchlitten und ist es Leid, von einer politischen Kaste ausgebeutet zu werden, die vor allem ihre eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellt. Bolsonaro war vor diesem Hintergrund weit und breit der einzige Kandidat, der in dieses System nicht verstrickt war und daher glaubwürdig das Versprechen abgeben konnte, diesen Sumpf austrocknen zu wollen.

Dafür holte er sogar Sérgio Moro als Justizminister in sein Kabinett, jenen Richter, der die Lava-Jato-Prozesse maßgeblich leitete. Doch Moro erwies sich bald als selbstverliebter und karrieregetriebener Maulwurf, der dank bester Umfragewerte lieber selbst Präsident werden will und sich dafür vom politischen Gegner hat einspannen lassen. Der Rücktritt war unvermeidbar, um seiner Entlassung vorzugreifen.

Bolsonaros Corona-Kurs

Dasselbe gilt für den Ex-Gesundheitsminister und Arzt Mandetta, welcher mit seiner WHO-treuen Corona-Politik selbst bei den politischen Gegnern Anerkennung fand. Umso größer war die Empörung, als Mandetta auf Druck Bolsonaros seinen Hut nehmen musste. Doch auch dieser Schritt war die logische Folge dessen, das Mandetta sich illoyal zum Präsidenten verhalten hatte und dessen Richtlinienkompetenz hintertrieb, indem er eine andere Corona-Politik propagierte, als der Präsident sie für richtig hielt.

Bolsonaros Satz, Corona sei nur eine „grippezinha“ (Kleine Grippe), ist international bereits zum geflügelten Wort geworden. Auch das wieder so eine typische, flapsige, provokante Zuspitzung Bolsonaros, die von Medien und Gegnern bestmöglich ausgeschlachtet wird.

Bolsonaro hat damit aber instinktiv von Beginn an nur seinem Misstrauen darüber Ausdruck verliehen, dass die Bekämpfung der Corona-Pandemie in keinem Verhältnis zur Gefährlichkeit des Virus stand. Und damit fand er bei mir von Anfang an volle Zustimmung.

So sehr experten- und regierungshörige Untertanen in dieser Hinsicht Denk- und Sprechverbote erteilen wollen, ist es völlig legitim, die herrschenden Widersprüche beim Namen zu nennen und die sich daraus ergebenden Risiken und Gefahren zu erkennen. Wer das unterdrücken will, ist entweder, ignorant, dumm, naiv oder hat irgendein Interesse daran.

Nun ist seit gestern (07.07.20) bekannt, dass Bolsonaro sich mit COVID angesteckt hat und erkrankt ist. Allerdings präsentierte er sich kurz darauf völlig vital und gut gelaunt der Öffentlichkeit und frohlockte, sich gut zu fühlen und außerdem mit dem umstrittenen Malaria-Medikament Hidroxicloroquina selbst zu behandeln. Seine Verächter und Gegner frohlockten alldieweil via Soziale Medien, er möge möglichst schwer erkranken oder gar daran sterben, um damit für seine saloppen Aussagen bestraft zu werden. Andere kolportieren, das Testergebnis sei doch eh nur ein Fake und inszeniert, um seine Thesen populistisch ausschlachten zu können (interessant, solche Verschwörungstheorien gerade von denen zu lesen und zu hören, die sonst jeden Corona-Kritiker als Verschwörungstheoretiker diffarmieren…).

Inzwischen wurde Bolsonaro aber längst von den Erkenntnissen des bisherigen Pandemie-Verlaufs bestätigt. Keine Frage: Das Virus breitet sich rasant aus. Das hat Bolsonaro auch nie bestritten. Doch die Gefährlichkeit hat sich längst relativiert. Denn eine Übersterblichkeit findet sich bestenfalls regional begrenzt, aber mit 99,7% Überlebenden lässt sich dem Virus keine Sterblichkeit nachweisen, welche einen monatelangen, globalen Lockdown samt Quarantäne rechtfertigen würde.

Die politisch Verantwortlichen der Pandemie-Bekämpfung

Bolsonaros Regierung hat nicht eine Minute gezögert, der Bevölkerung wie den Bundesstaaten die Hilfen zu gewähren, die notwendig waren, um die Pandemie zu bekämpfen und die Wirtschaft zu stützen. Alles Andere liegt und lag nie in der Verantwortung der Bundesregierung, sondern der Gouverneure und Bürgermeister.

Hier zeigte sich schnell eine klare politische Tendenz: alle Gouverneur, die poltische Gegner der Bolsonaro-Regierung sind, verhingen besonders rigide Maßnahmen, meldeten besonders hohe Infektionsraten und forderten gleichzeitig die höchsten bundesstaatlichen Hilfsgelder, um der Pandemie wie dem Wirtschaftszusammenbruch zu begegnen.

Brasilien gilt als das Land mit den zweithöchsten Infektionsraten weltweit hinter den USA. Zufall, dass es ausgerechnet die beiden Länder sind, welche die meiste Kritik an der Corona-Politik der nicht zuletzt von China alimentierten WHO übten?

Jedenfalls sind diese Zahlen eh mit größter Vorsicht zu genießen. Brasilien testet mangels Verfügbarkeit bei Weitem nicht so intensiv wie Deutschland. Die Ergebnisse aus den Labors dauern Tage bis Wochen, bis sie vorliegen, die Wege sind weit, zumal nur die Metropolen über entsprechende Zentral-Labore verfügen, die mitunter für den ganzen Bundesstaat zuständig sind. Viele Fälle, die in die Statistiken einfließen, sind also bestenfalls Verdachtsfälle ohne jeden Beweis. Bürgermeister und Gouverneure haben außerdem ein Interesse daran, möglichst hohe Fallzahlen zu melden, weil sie für jeden Behandlungsfall Zuwendungen des staatlichen Gesundheitssystems bekommen, was wiederum eine wunderbare Gelegenheit ist, sich die eigenen Taschen vollzumachen.

Dieses Geflecht der politischen und finanziellen Gefälligkeiten ist in Brasilien so komplex, dass man es kaum auf einen Nenner bringen kann. Aber es ist praktisch systemimmanent, gewissermaßen Teil der politischen und gesellschaftlichen Kultur. Und man fragt sich als Brasilien-Liebhaber, ob das jemals ein Ende finden wird?

Ich jedenfalls hätte mir gewünscht, dass Bolsonaro sich mit seiner Skepsis in der Öffentlichkeit durchgesetzt und damit das Leid vor allem der armen Bevölkerung massiv verringert hätte, die unter den Locksdowns am  meisten zu leiden hat, weil ihre Einnahmequellen versiegt und sie von staatlichen Alimenten abhängig geworden sind.

Der Lockdown hat selbst den Mittelstand massiv erfasst, vor allem die Selbständigen und Unternehmer. Die meisten haben den monatelangen Stillstand nicht überstanden, stecken bis zum Hals in Schulden und haben null Reserven, um zu überleben oder gar in die ungewisse Zukunft zu investieren.

Der Arbeitsmarkt liegt am Boden und wird sich – wenn überhaupt – nur auf einem erheblich geringeren Niveau einpendeln. Geregelte, gut bezahlte Jobs wird man nur noch in systemrelevanten Bereichen finden. Der Rest wird selber sehen müssen, wo er bleibt.

Das ist aber nichts Bolsonaros Schuld, sondern die Folge eines politischen Ränkespiels, bei dem vielen Akteuren das Schicksal der Menschen und des Landes völlig am Arsch vorbeigeht, solange sie selber an der Macht sind und an den Fleischtöpfen sitzen.

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