A Vergonha

Dieses Wort ist zur Zeit in aller Munde: Vergonha (sprich: Wergónnja). Um die Bedeutung dieses portugiesischen Wortes zu ermessen, braucht man sich nur das Auftreten der brasilianischen Seleção anzuschauen. Das 1:7 im Halbfinale gegen Deutschland war ein Schlag in die Magengrube. Aber mit dem 0:3 gegen die Niederlande im Spiel um Platz 3 (Kleines Finale) hat die noch bis vor Kurzem hoch favorisierte brasilianische Nationalmannschaft komplett die Karten gelegt bekommen. Die Peinlichkeit, Blamage, Schande könnte vollständiger nicht sein.

Das war einfach nichts, gar nichts, was die Brasilianer im Mané Garrincha Stadion von Brasília aufzubieten hatten. Kapitän und Abwehrchef Thiago Silva war im Gegensatz zum Spiel gegen Deutschland zwar wieder an Bord. Er wäre aber schon kurz nach Anpfiff mit einer roten Karte vom Platz geflogen, weil er Arjen Robben kurz vor dem 16-Meter-Raum foulte. Der völlig unfähige algerische Schiedsrichter entschied fälschlicherweise auf Elfmeter und auf Gelb für Thiago. Van Persie verwandelte den Strafstoß sicher.

In der 17. Minute erzielte Daley BLIND den zweiten Treffer für die Niederlande, den tatsächlich auch ein Blinder mit Krückstock hätte erzielen können, so konfus war das, was die brasilianische Mannschaft auf dem Platz bot – vor den Augen ihres verletzten Superstars Neymar, der von der Bank aus das Spiel verfolgte.

Noch bevor die erste Halbzeit zu Ende war, schaltete ich den Fernseher aus. Ich hatte genug gesehen. Die Holländer hatten leichtes Spiel und es schien, als könnten sie das Spiel mühelos 10:0 gewinnen, wenn sie nur wollten.

Sie beliessen es bei einem 3:0 mit einem Tor von Wijnaldum (klingt wie ein Schlafmittel) in der 90. Minute +1.

Vor dem Spiel wurde unter Experten diskutiert, welchen Sinn dieses Spiel um Platz 3 überhaupt habe und ob man es nicht besser abschaffen sollte.

Die Frage ist berechtigt und offenbar gar nicht so eindeutig zu beantworten.

Im Prinzip ist dieses Spiel völlig irrelevant. Die Titelträume der beteiligten Mannschaften sind perdu, sie sind eigentlich raus aus dem Turnier und Platz 3 ist nichts, wofür man sich sprichwörtlich „den A… aufreisst“.

Es hängt aber wohl auch von den Umständen ab. Beim Sommermärchen 2006 in Deutschland nutzte die DFB-Elf das Kleine Finale, um den Fans daheim nochmal Freude zu bereiten und ein Dankeschön zurückzugeben.

Der brasilianischen Seleção dagegen steckte die Schmach gegen Deutschland noch so sehr in den Knochen, dass sie unfähig war, sich zu einem gemeinsamen, überzeugenden Kraftakt aufzuraffen.

Die Niederlage des brasilianischen Fussballs ist komplett. Und man fragt sich im Nachhinein, wie diese Mannschaft überhaupt so weit kommen konnte. Ohne Neymar geht offenbar wirklich nichts. Und das ist selbstverständlich viel zu wenig.

Den Spielern kann man wahrscheinlich noch die geringsten Vorwürfe machen. Sie standen unter einem Erwartungsdruck seitens des Verbandes und der Politik, der wie ein Mühlstein auf ihnen lastete. Die Bevölkerung hat diese überzogenen Erwartungen nur bedingt geteilt. Die Erwartungen und Hoffnungen stiegen erst im Laufe des Turniers – wie bei der deutschen Mannschaft im Übrigen auch. Wer hätte vor Beginn des Turniers erwartet, dass Deutschland so weit kommen würde und nun sogar so nah vor dem Titelgewinn steht?

Brasilien steht nackt und bloß da, wie ein Kaiser ohne Kleider. Blamiert, bloßgestellt. Außer Spesen nichts gewesen.

Es liegt aber an Brasilien, an seiner Bevölkerung, seinen Eliten, aus dieser Erfahrung die richtigen Lehren zu ziehen.

Ob Trainer Felipe Scolari bleibt oder nicht, ist dabei womöglich eher zweitrangig. Und einen ausländischen Trainer an die Spitze zu setzen, wäre überhaupt keine Lösung. Er würde sich im brasilianischen Gestrüpp von Freund und Feind völlig verheddern.

Die Erneuerung muss im brasilianischen Fussballverband CBF beginnen, wo Leute das Sagen haben, die bis zur Halskrause im Korruptionssumpf stecken.

In der Bevölkerung sehen viele den Ex-Weltfussballer Romário in der Plficht. Er ist der prominenteste und wirkungsmächtigste Kritiker des Systems. Allerdings schätze ich ihn auch als zu egomanisch und launisch ein, um diese Herkulesaufgabe zu meistern. Er müsste zumindest noch ein paar andere gute Mitstreiter an seiner Seite haben.

Aber auch politisch muss das Momentum genutzt werden. Brasilien muss reifer, verantwortungsbewusster, pluralistischer werden. Die Menschen müssen sich mehr einbringen und dafür kämpfen, dass der vorhandene Reichtum gerechter verteilt wird und in Bildung und Gesundheit fließt. Die Regierung von Dilma Rousseff hat da ja durchaus vieles auf den Weg gebracht. Aber die Präsidentin lässt eine überzeugende Führungsrolle vermissen.

Ihre Partei, die regierende Arbeiterpartei PT ist selbst zu sehr im Korruptionssumpf verstrickt. Dilmas Vorgänger Lula hat zusammen mit dem damaligen CBF-Präsidenten Ricardo Teixeira die WM nach Brasilien geholt. Sie haben ohne Not die Austragung in 12 WM-Städten durchgesetzt.

Dilma musste also ausbaden, was ihr Vorgänger ihr eingebrockt hat. Und sie kann sich öffentlich nicht von ihm distanzieren, weil sie ohne seine Popularität wohl kaum an die Macht gekommen wäre.

Das Verhältnis gleicht ungefähr dem zwischen Angela Merkel und Helmut Kohl, als der Überkanzler sich in der Parteispendenaffäre immer mehr diskreditierte und es Zeit war, einen radikalen Schnitt zu machen.

Angela Merkel hat ihn gemacht und ist am Ende als Siegerin daraus hervorgegangen. Dilma müsste sich ebenfalls an die Spitze der Bewegung setzen, um Brasilien nach vorne zu bringen. Denn eine überzeugendere Alternative ist derzeit nicht in Sicht. Aber ist sie dazu fähig? Kann sie die Menschen noch überzeugen und gewinnen? Erkennt sie ihre Aufgabe überhaupt?

Fragen über Fragen. Dilma muss sich entscheiden. Und zwar schnell. Denn Anfang Oktober wird gewählt.

Mineirãnaço

Was nun, Frau Rousseff?

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